Wahrheit (Krimipreis 2012)
Reihe kriegen, werden wir erfahren, wie es sich anfühlt, von ’ner ganzen Fußballmannschaft in den Arsch gefickt zu werden. Jedenfalls die, die es nicht schon wissen.«
»Tja, du hast eine Geschichte gehört«, sagte Villani. »Könnte ein Irrtum sein.«
»Mein ganzes Leben ist ein beschissener Irrtum«, sagte Vickery. »Von ein oder zwei Ausnahmen abgesehen, die ich vergessen habe. Das hier ist kein Irrtum.«
Auf der Treppe, seine Einkaufspakete unter dem Arm, kam Villani an zwei jungen, sich streitenden Frauen vorbei, fleckige Gesichtshaut, Drogensüchtige, Nutten. Die Tür zur Straße wollte erst nicht aufgehen, dann traf ihn die Außenluft, heiße, nach Holzrauch und Petrochemikalien stinkende Luft, uralte und neue Brennstoffe.
I ch sag ja gar nicht, dass Greg ein guter Junge war«, sagte sie an jenem Tag.
»Das ist auch besser so«, sagte Villani, »weil es eine Riesenlüge wäre.«
Er hatte auf dem Boden gekniet und an dem letzten Büschel Quecken gezogen, die Wurzeln gaben nach, ohne Vorwarnung, und seine Hände schlugen ihm ins Gesicht. Er spuckte aus, ein elastischer Speichelfaden, der nicht wegflog, die blutige Spucke fiel ihm vom Kinn und landete auf seinem T-Shirt.
Er steckte einen Finger in den Mund, tastete die Innenseite seiner Lippe ab.
»Finger im Mund, mein Junge«, sagte Rose. »Das darf man gar nicht. Man füttert sich mit Bazillen.«
Sie war auf der Veranda, eine Filterzigarette in einer Zigarettenspitze aus rosa Plastik.
»Schade, dass ich dich nicht früher kennengelernt habe«, sagte Villani. »Du hättest mir so viel ersparen können.«
»Mick wiederum«, sagte sie. »Ich dachte immer, aus Mick würde mal was werden.«
»Das lag nur an der schlechten Gesellschaft, ich weiß.«
Rose schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken, atmete Rauch aus. »Verdammt richtig. Kaputte Familien, bei jedem Einzelnen von denen.«
Villani ging mit der Gießkanne zu der Regenwassertonne hinter dem Haus. Gießen mit Leitungswasser war tabu. Es
hatte schon lange kaum mehr geregnet, aber Rose’ Tonne war immer voll. Er stellte keine Fragen. Es war ihr durchaus zuzutrauen, dass sie mitten in der Nacht durch den kaputten Zaun zu den Nachbarn hinüberschlich, ihren Schlauch mit deren Hahn verband und sich die Tonne füllte.
Im Laufe der Zeit sah er im Haus Gegenstände, die Mittel und Bedürfnisse einer alten Rentnerin bei Weitem überstiegen : französisches Parfüm, ein ledernes Portemonnaie, Handtaschen, Pralinen, Schmuck, CDs, DV Ds.
Einmal nahm er eine kleine Kamera in die Hand. »Wo hast du die her?«
»Gefunden«, sagte sie. »An der Bushaltestelle.«
»Genau wie das Chanel No. 5?«
»Nicht frech werden, Bulle.«
»Ich würd dich nur ungern vor Gericht sehen.«
»Was, willste mich verpfeifen? Geschieht mir verdammt recht, was lass ich dich auch in mein Haus. Und was quatschst eigentlich ausgerechnet du? Ihr seid doch alle korrupt, jeder Einzelne von euch Pennern. Glaub mir, Jungchen, ich weiß es.«
Villani kam zurück, mit der randvollen Gießkanne. »Du hast hier großes Glück mit dem Regen«, sagte er. »Mikroklima. Winzige Zone mit hohem Niederschlag.«
Nach einer Weile sagte Rose: »Kinder. Man will sich ja nicht selbst Vorwürfe machen, oder? Weiß Gott, man hat sein Bestes gegeben.«
»Was, wenn man nicht sein Bestes gegeben hat?«
»Ich?«
»Nein, ich.«
»Nun, du bist keine Mutter.«
»Nein«, sagte Villani. »Tja, dann bin ich ja fein raus.«
Er verteilte das Gießwasser, seine besondere Aufmerksamkeit galt den Möhren und Kartoffeln in dem Fass. Er mochte Wurzelgemüse. Als er sieben war, ließ Bob Villani ihn und
Mark bei ihrer Großmutter Stella. Nur für ein paar Wochen, mein Junge, sagte er. Über drei Jahre vergingen, und Villani konnte sich nur an zwei Besuche seines Vaters erinnern.
Doch mit sieben wusste er schon, wusste es von seiner Mutter, dass das, was einem Erwachsene erzählten, nur stimmte, wenn es ihnen in den Kram passte. Er war zum Experten darin geworden, die Stimmungen Erwachsener zu erkennen, immer auf der Hut, ob er Anzeichen für Unruhe, falsche Heiterkeit und überflüssige Lügen, für scheinbare Aufrichtigkeit bemerkte. Er kannte alle Gefahrenzeichen – besondere Aufmerksamkeit und weggeschubst werden, geflüsterte Gespräche, unerwartete und beängstigende Ausbrüche, gefolgt von Umarmungen und Küssen.
In dem ersten Frühling zeigte Stella ihm, wie man Möhrensamen aussäte. Sie legte sie in ein Glas mit Sand, zog mit dem Finger
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