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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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errichtet und die Kontrollen an der mexikanischen Grenze verstärkt und ein Foto von Bethany an die Medien gegeben. Dann haben sie eine Pressekonferenz arrangiert, auf der ich die Öffentlichkeit persönlich um Unterstützung bitten konnte. Es wurden Hotlines eingerichtet und Plakate und Handzettel verteilt.«
    »Gab es Reaktionen?«
    »Hunderte«, sagt meine Mutter. »Aber keine hat zu meinem Kind geführt.«
    Emma Wasserstein geht einen Schritt auf meine Mutter zu. »Mrs. Vasquez, wann genau haben Sie Ihre Tochter vor der Entführung zuletzt gesehen?«
    »Am 17. Juni. Charlie sollte sie am 19. Juni zurückbringen. Am Vatertag.«
    »Und wie lange mußten Sie warten, bis Sie Ihre Tochter wiedersehen konnten?«
    Wieder findet meine Mutter meine Augen, unbeirrbar schnell. »Achtundzwanzig Jahre«, sagt sie.
    »Wie haben Sie sich während dieser Zeit gefühlt?«
    »Ich war am Boden zerstört. Ich habe nie ganz die Hoffnung aufgegeben, daß sie wiederkommen würde.« Meine Mutter zögert. »Ich habe mich aber auch gefragt, ob das meine Strafe war.«
    »Strafe? Wofür?«
    Ihre Stimme wird zu einer holprigen Straße. »Süße kleine Mädchen sollten Mütter haben, die nicht vergessen, ihnen eine Toilettenpapierrolle zum Basteln mit in den Kindergarten zu geben. Oder die die Strophen der Lieder behalten können, die sie dort lernen. Süße kleine Mädchen sollten Mütter haben, die schon ein Pflaster parat halten, bevor die Kleine mit dem Dreirad umkippt. Aber statt dessen hat Bethany mich gehabt.« Sie holt zitternd Luft. »Ich war jung ... und ich ... vergaß schon mal Sachen ... und wurde dann wütend auf mich - da hab ich ein oder zwei Gläser getrunken, um mich nicht so schuldig zu fühlen. Aber aus zwei Gläsern wurden sechs oder sieben oder eine ganze Flasche, und dann hab ich das Weihnachtskonzert verpaßt oder bin eingeschlafen, obwohl ich das Essen hätte machen müssen ... und dann fühlte ich mich deshalb so furcht-bar, daß ich mir noch ein Glas eingeschüttet habe, nur um zu vergessen, daß ich wieder alles falsch gemacht hatte.«
    »Haben Sie auch getrunken, wenn Ihre Tochter zu Hause war?«
    Meine Mutter nickt. »Ich habe getrunken, wenn ich mich hilflos fühlte. Ich habe getrunken, wenn ich mich nicht hilflos fühlte, um mich vor diesem Gefühl zu schützen. Ich habe getrunken, weil ich dachte, das ist das einzige, was ich unter Kontrolle hatte. Was natürlich nicht der Fall war. Aber wenn man völlig weggetreten ist, spielen feine Unterschiede keine Rolle mehr.«
    »Hat Ihr Alkoholkonsum das Verhältnis zu Ihrer Tochter beeinträchtigt?«
    »Ich würde gern glauben, daß sie gewußt hat, wie sehr ich sie liebe. In all meinen Erinnerungen an sie ist sie glücklich.«
    »Mrs. Vasquez, sind Sie Alkoholikerin?«
    »Ja.« Meine Mutter blickt die Geschworenen an. »Das werde ich immer sein. Aber inzwischen bin ich seit fünfundzwanzig Jahren trocken.«
    Manchmal verschwand Erics Mutter wochenlang. Er erzählte uns dann, sie wäre zu Besuch bei ihrer Schwester. Erst Jahre später erfuhr ich, daß sie gar keine Schwester hatte. Einmal, als wir Kinder waren, gestand er mir, daß es für ihn einfacher sei, wenn sie nicht da war. Ich hielt ihn für verrückt: Ich glaubte ja, meine Mutter wäre tot, und eine mit Fehlern wäre mir immer noch lieber gewesen als gar keine Mutter.
    Und auf einmal wird mir klar, daß meine Mutter mich bereits verlassen hatte, bevor ich sie verließ.
    Im Mittelgang wird es unruhig, und dann merke ich, daß Fitz am Rand meiner Reihe steht und den Mann neben mir im eindringlichen Flüsterton zu bewegen versucht, ihm seinen Platz zu überlassen. Erst als Fitz schließlich einen Zwanzigdollarschein zückt, steht der Mann auf, und Fitz kann sich neben mich setzen. »Hör auf zu denken«, befiehlt er und drückt meine Hand.
    Eric erhebt sich für das Kreuzverhör und nähert sich meiner Mutter. Ich frage mich, was er sieht, wenn er sie anschaut. Mich vielleicht. Oder seine eigene Mutter.
    »Mrs. Vasquez«, beginnt er, »Sie haben vorhin gesagt, in all Ihren Erinnerungen an Delia sei sie glücklich.«
    Er nennt mich Delia, merke ich, um alle daran zu erinnern, wer ich wirklich bin.
    »Ja.«
    »Aber sehr viele Erinnerungen haben Sie nicht an sie, nicht wahr?«
    »Nicht genug«, sagt meine Mutter. »Ich habe sie nicht aufwachsen sehen.«
    »Sie haben auch nicht viel von ihr gesehen, als sie klein war«, widersetzt Eric. »Wurden Sie 1972 zu einem Bußgeld wegen Alkohol am Steuer

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