Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
zu hassen. Emma Wasserstein steht auf und geht schwerfällig zur Geschworenenbank, wo sie ihren Bauch fast an die polierte Balustrade lehnt. »Stellen Sie sich vor, Ladys und Gentleman, Sie sind vier Jahre alt und wohnen mit Ihrer Mutter in Scottsdale. Sie haben eine rosa Bettdecke und eine Schaukel im Garten, und Sie gehen in den Kindergarten. Seit der Scheidung Ihrer Eltern sehen Sie Ihren Vater immer an den Wochenenden. Und Sie sind glücklich.
Doch eines Tages erklärt Ihr Vater Ihnen, daß Sie nicht mehr Bethany heißen. Sie verstehen das nicht, genauso wenig wie Sie die überstürzte Flucht aus Ihrem Heimatort verstehen, die Motels, die neuen Anziehsachen, die gefärbten Haare. Wenn er Sie fremden Leuten vorstellt, nennt er Sie >Delia<. Sie sagen ihm, Sie möchten zurück nach Hause, und er antwortet, das geht nicht. Er sagt, Ihre Mutter ist tot.«
Sie wendet sich ab und geht langsam auf den Tisch der Anklagevertretung zu. »Weil er Ihr Vater ist, weil Sie ihn lieben und ihm vertrauen, glauben Sie ihm. Sie glauben, daß Ihre Mutter wirklich tot ist. Sie glauben, daß Sie nicht mehr Bethany sind - Sie glauben, daß Sie es nie waren.
Sie ziehen nach New Hampshire und erleben, wie Ihr Vater, der sich jetzt Andrew Hopkins nennt, als vorbildlicher Bürger bejubelt wird. Sie leben die Geschichte, die er für Sie geschaffen hat. Und Sie ver-gessen achtundzwanzig Jahre lang, daß Sie einmal ein Opfer waren.«
Wieder blickt sie die Geschworenen an. »Aber es gab noch ein zweites Opfer, das niemals vergessen hat. Mise Matthews hat sich jeden Morgen beim Aufwa-chen gefragt, ob heute der Tag ist, an dem ihr geliebtes Kind zu ihr zurückgebracht wird. Ein Vierteljahrhun-dert lang wußte Elise Matthews nicht, ob Bethany noch am Leben ist, sie wußte nicht, wo ihre Tochter sein könnte, nicht einmal, wie sie inzwischen aussah.«
Emma faltet die Hände über ihrem mächtigen Hauch. »Die Beziehung zwischen einem Erwachsenen und einem Kind ist nicht gleichberechtigt. Wir sind größer und stärker und erfahrener, und deshalb gehen wir einen ungeschriebenen Vertrag ein, der uns die Aufgabe überträgt, die Interessen eines Kindes über unsere eigenen zu stellen. Charles Matthews, Ladys und Gentleman, hat gegen diesen Vertrag verstoßen. Kr hat seine kleine Tochter ohne Rücksicht auf ihr emotionales Wohl aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und ihr ein unbekanntes, beängstigendes Leben aufgezwungen, dreitausend Meilen weit weg von ihrem Zuhause. Er wird versuchen, sich Ihnen als Held darzustellen. Er wird sich darum bemühen, daß auch Sie ihm seine Lügen abkaufen. Aber die Wahrheit, Ladys und Gentleman, ist ganz einfach: Charles Matthews war unzufrieden mit der Sorgerechtsregelung zwischen ihm und seiner Exfrau Elise, und da hat er sich genommen, was er wollte und ist auf und davon.«
Sie nähert sich der Geschworenenbank. »Tag für Tag verschwinden in diesem Land etwa zweitausend Kinder. Viele tauchen bereits kurz darauf wieder auf.
Viele nicht. Und von denen wurden an die neunzig Prozent von einem Elternteil entführt. Das bedeutet, daß in den USA jeden Tag Hunderte von Eltern ihre eigenen Kinder kidnappen, genau wie Charles Matthews es getan hat. Aber früher oder später spüren wir sie auf, wenn wir Glück haben.« Emma dreht sich um und zeigt auf meinen Vater. »Achtundzwanzig Jahre lang konnte der Mann dort einer Mutter ungestraft das Herz brechen. Achtundzwanzig Jahre lang konnte er ungestraft das Vertrauen seiner Tochter mißbrauchen. Achtundzwanzig Jahre lang konnte er ungestraft das Gesetz hintergehen. Strafen Sie ihn jetzt.«
Eric steht auf. »Ladys und Gentlemen, was Mrs. Wasserstein Ihnen nicht gesagt hat, ist, daß Elise Matthews schon lange vor dem gebrochenen Herzen ein beschädigter Mensch war. Eine Alkoholikerin, die in ihrem eigenen Erbrochenen lag, bewußtlos - das war Bethany Matthews' Mutter. Das war die Frau, die die Aufgabe hatte, sich um sie zu kümmern, die Frau, die zu betrunken war, um überhaupt zu merken, daß ihre Tochter da war. Ist Andrew Hopkins mit seiner Tochter auf und davon? Ja. Aber nicht aus Rache oder Eigennutz, sondern aus Barmherzigkeit.«
Eric stellt sich hinter meinen Vater und legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Mrs. Wasserstein möchte Sie glauben machen, daß dieser Mann minutiös geplant hat, das Leben seiner Tochter zu zerstören, als sie wie jedes Wochenende bei ihm zu Besuch war, aber das stimmt nicht. Die Wahrheit ist, Andrew hat sein Kind an dem Tag nach
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