Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman
Gesicht gerötet. »Hört sich ganz so an, als hättest du in Wexton ein schönes Leben gehabt. Und die alten Herrschaften ... sind ja ganz begeistert von dir.«
»Ein dürftiger Ersatz«, scherze ich, aber der Witz geht daneben. Ich blicke von ihrem schiefen Scheitel zu dem Eckzahn, der ein klein wenig krumm ist - die kleinen Makel, die sie noch schöner machen. Wieso hatte sie das nie verstehen können?
»Du bist immer noch so verdammt schön«, murmele ich. »Weißt du, in achtundzwanzig Jahren habe ich keine einzige Frau mehr getroffen, die mitten in einem Film anfängt, auf die Figuren einzureden.«
»Ich hab von dir auch ein paar Dinge gelernt, Charlie«, sagt sie. »Ein sehr kluger Apotheker hat mir mal erzählt, daß sich bestimmte Elemente nicht miteinander vermischen lassen, manche sind in der Kombination sogar tödlich. Bleiche und Ammoniak zum Beispiel. Oder du und ich.«
»Elise -«
»Ich habe dich so sehr geliebt«, flüstert sie.
»Ich weiß«, sage ich leise. »Ich wünschte bloß, du hättest dich selbst ein wenig mehr geliebt.«
»Denkst du manchmal an ihn?« fragt Elise. »An unser Baby?«
Ich nicke langsam. »Ich frage mich, ob alles anders gekommen wäre, wenn er -«
»Sag es nicht.« Sie hat Tränen in den Augen. »Komm, wir machen folgendes, Charlie, ja? Wir wählen nur einen Satz von all den Sätzen aus, die wir hätten sagen sollen - den besten, wichtigsten Satz -und nur den sagen wir.«
Da ist sie wieder, meine alte Elise - spontan, etwas verrückt - die Frau, in die ich mich einfach verlieben mußte. Und weil ich weiß, daß sie im Treibsand der Reue versinkt, genau wie ich, nicke ich. »Na gut. Aber ich fange an.« Ich versuche, mich zu erinnern, wie es war, von jemandem geliebt zu werden, der keine Grenzen kannte und noch nicht dadurch zerstört worden war. »Ich verzeihe dir«, flüstere ich und mache ihr ein Geschenk.
»Ach, Charlie«, sagt Elise und gibt mir eins im Gegenzug. »Sie ist absolut perfekt geworden.«
Im blauen Licht der Zelle liste ich im Kopf die besten Augenblicke meines Lebens auf. Es sind nicht die Meilensteine, die man erwarten würde, es sind Sekunden, wie ein Wimpernschlag. Du und dein Brief an die Zahnfee, in dem du gefragt hast, ob du aufs College gehen müßtest, um auch eine zu werden. Wenn ich morgens aufgewacht bin und du neben mir lagst, an mich gekuschelt. Du, wie du mich fragst, warum man sich in Spiegeleiern nicht sehen kann. Wie ich den Vorhang des Zauberkastens beiseite ziehe, damit du in deinem kleinen Paillettenkostüm hineinsteigen kannst. Und wie ich ihn dann wieder öffne, damit wir alle dich erneut auftauchen sehen können.
Das Erstaunliche ist, daß ich noch lange so weitermachen könnte, ohne daß mir die besten Augenblicke meines Lebens ausgehen würden. In achtundzwanzig Jahren kommt einiges zusammen.
Von hier oben sieht es anders aus. Zwischen mir hier im Zeugenstand und dem übrigen Saal ist ein dünnes Geländer, aber dennoch treffen ihre Blicke mich wie Hammerschläge. »Es war am Samstag vor Vatertag«, sage ich und blicke Eric an. »Bethany war ganz aufgeregt, weil sie im Kindergarten für mich eine Karte mit einer Krawatte drauf gebastelt hatte. Als ich sie abholte, kam sie geradezu auf den Wagen zugeflogen. Wir haben gegrillt und sind anschließend in den Zoo gegangen. Aber dann ist ihr eingefallen, daß sie ihre Schmusedecke vergessen hatte, ohne die sie nicht einschlafen konnte. Ich hab gesagt, wir würden bei ihr zu Hause vorbeifahren und sie holen.«
»Als ihr dort ankamt, wie war das?«
»Ich habe an der Haustür geklopft, aber Elise hat nicht aufgemacht. Ich ging ums Haus und hab durch ein Seitenfenster geschaut. Elise lag im Flur in ihrem Erbrochenen. Der Boden war voll mit Hundekot und -urin. Und Glasscherben.«
Ich sehe, wie sich Emma Wasserstein zurücklehnt, als Elise ihr auf die Schulter tippt. Die zwei Frauen flüstern kurz miteinander.
»Was hast du dann gemacht?« fragt Eric, und ich konzentriere mich wieder.
»Ich hab überlegt, ins Haus zu gehen und sie sauberzumachen, wie schon so oft. Und wie schon so oft würde Beth mir dabei zusehen. Und eines Tages würde sie diejenige sein, die sich um ihre Mutter kümmerte.« Ich schüttele den Kopf. »Das konnte ich einfach nicht mehr.«
»Es hätte doch eine Alternative geben müssen.« Eric spielt den Advocatus Diaboli.
»Ich hatte ihr schon mal ein Ultimatum gestellt. Nach der Totgeburt unseres zweiten Kindes fing sie so stark an zu trinken, daß ich es
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