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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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kostbares Schmuckstück an. Eric ist schon ein ganzes Stück entfernt, als ich antworte. »Das tu ich doch immer.«

ZWEI
    Wie wenig bleibt von dem Menschen, der ich einst war, außer der Erinnerung! Doch Erinnern ist nur neues Leiden.
    CHARLES BAUDELAIRE, Die Fanfarlo

DELIA
    Als ich klein war, habe ich mir immer ausgemalt, wie es sein könnte, wenn meine Mutter zu mir zurückkommen würde. Ich würde zum Beispiel in einem Diner einen Milchshake bestellen, und die Frau auf dem Hocker neben mir würde sich umdrehen und unsere Blicke würden wie starke Magnete aufeinander treffen. Oder ich gehe zu meiner ersten Fahrstunde, und als ich mich ans Steuer setze, steigt sie als meine Fahrlehrerin neben mir ein und ist genauso überrascht wie ich. In all diesen Tagträumen haben wir uns stets per Zufall gefunden. In all diesen Tagträumen haben meine Mutter und ich einander ohne ein Wort erkannt.
    Es ist eine merkwürdige Vorstellung, daß sie während der letzten achtundzwanzig Jahre hinter mir in der Schlange an der Supermarktkasse gestanden haben könnte. Vielleicht haben wir auch zusammen an einer Bushaltestelle gewartet oder sind auf einer belebten Straße aneinander vorbeigelaufen. Es ist eine merkwürdige Vorstellung, daß unsere Wege sich gekreuzt haben könnten, ohne daß wir gewußt haben, was uns entgeht.
    Wenn es zwingend erforderlich ist, kannst du dein ganzes Leben in einen einzigen Koffer packen. Frag dich, was du wirklich brauchst, und du stellst fest, nur wenig von dem, was du in all den Jahren angehäuft hast, landet im Gepäck.
    Sophie drückt ihr Gesicht an das kleine Fenster im Flugzeug und wartet auf den Start. Es ist ihr erster
    Flug. Meine Tochter glaubt, wir machen spontan Urlaub. Ich habe ihr erzählt, daß es dort, wo wir hinfliegen, warm ist. Daß Eric dort schon auf uns wartet.
    Vielleicht auch meine Mutter.
    Sie hat noch nicht angerufen. Vielleicht hat sie ja Angst, wie Fitz meint. Vielleicht hat ihr Anwalt ihr davon abgeraten. Eric hat mir erklärt, die Tatsache, daß der Staat Arizona nach so langer Zeit Anklage erhebt, bedeutet nicht, daß meine Mutter die treibende Kraft ist, oder gar, daß sie noch lebt. Ein offener Haftbefehl ist ein offener Haftbefehl, Ende.
    Hin und wieder lasse ich den finstersten Gedanken zu, daß sie sich einfach deshalb nicht bei mir gemeldet hat, weil sie keinen Kontakt mit mir will. Ich kann diese Mutter nicht mit der Mutter in Einklang bringen, die ich mir all die Jahre vorgestellt habe.
    Aber andererseits, wenn meine Mutter so perfekt war wie in meiner Vorstellung, wieso hätte mein Vater dann mit mir weglaufen sollen? Ich habe seine Liebe zu mir nie angezweifelt, aber wenn ich das weiterhin tun will, muß ich dann in Anbetracht dessen, was ich inzwischen weiß, an der Liebe meiner Mutter zweifeln? Und wenn ich das nicht kann, wenn ich es nicht will, muß ich mir dann nicht eingestehen, daß mein Vater etwas Unrechtes getan hat?
    Als ich Eric das alles erzählte, sagte er, er würde schon bald erfahren, ob meine Mutter noch in Arizona lebt, ich solle aufhören, mir den Kopf zu zerbrechen, es würde mich nur verrückt machen.
    Aber wenn es um mich und Sophie ginge, wenn wir viele Jahre getrennt gewesen wären - dann würde ich nicht auf meinen Anwalt hören. Ich würde Zweifeln keine Beachtung schenken. Ich würde zu Fuß die halbe
    Welt durchqueren, um irgendwann bei ihr vor der Tür zu stehen. Ich würde klingeln, und wenn sie aufmacht, würde ich sie so fest an mich drücken, daß sich nichts mehr dazwischen schieben könnte, nicht einmal der kleinste Hauch von Bedauern.
    »Mommy?« sagt Sophie. »Kriegt Greta auch einen Sicherheitsgurt?«
    »Sie hat eine besondere Reisekiste«, beruhige ich sie. »Wahrscheinlich schläft sie schon.«
    Sophie blickt nachdenklich. »Kann sie auch träumen?«
    »Na klar«, erwidere ich. »Du hast doch schon oft gesehen, wie sie im Schlaf die Pfoten bewegt hat, als würde sie umherrennen.«
    »Ich habe gestern nacht was geträumt«, sagt Sophie. »Grandpa ist mit mir Eis essen gegangen, aber in der Eisdiele haben alle nur Erdbeer gekriegt, egal, was sie wollten.«
    »Er mag gar kein Erdbeer«, sage ich leise.
    »Aber in meinem Traum«, sagt Sophie, »hat er es trotzdem gegessen.« Sie dreht sich auf ihrem Sitz um und sieht mich an. »Ist Grandpa auf der anderen Seite?«
    Sie meint in Arizona, aber so verstehe ich es nicht. Ich habe meinen Vater und mich immer als Einheit gesehen, als Team, aber nun bin ich mir nicht mehr sicher.

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