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Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman

Titel: Wahrheit Meines Vaters, Die: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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noch? Die ich noch schnell holen wollte, an dem Tag, als wir fort sind, aber du wolltest nicht extra zurückfahren, weißt du noch? Und weißt du, daß sie noch immer meinen richtigen Geburtstag feiert?«
    Mein Vater läßt sich schwer auf den Schemel in der Kabine sinken.
    »Vielleicht kannst du mir sagen, was mir entgangen ist«, sage ich, meine Stimme klingt viel zu hoch und dünn. »Weil der Frau, mit der ich heute gesprochen habe, es genauso leid tut wie mir, daß ihr achtundzwanzig Jahre entgangen sind.«
    »Darauf möchte ich wetten«, sagt mein Vater so leise, daß ich glaube, mich verhört zu haben.
    Ich schüttele den Kopf, völlig fassungslos. »Was hat sie dir getan?« flüstere ich. »Womit hat sie dich so wütend gemacht, daß du mich gekidnappt hast?«
    »Es ging nicht darum, was sie mir getan hat«, antwortet mein Vater. »Sondern was sie dir getan hat.« Eine Ader pocht an seiner Schläfe. »Wir sind damals zurückgefahren, um deine Decke zu holen«, sagt er. »Wir sind ins Haus gegangen, und du bist über deine Mutter gestolpert, die auf dem Boden lag, sturzbetrunken. Und ich kann dir genau sagen, wie dein Leben gewesen wäre, wenn sie dich großgezogen hätte. Du hättest dir morgens vor dem Kindergarten selbst das Frühstück machen müssen, weil deine Mutter einen solchen Kater gehabt hätte, daß sie dazu nicht imstande gewesen wäre. Du hättest regelmäßig den Spülkasten der Toilette kontrollieren müssen, um die Wodkaflasche auszukippen, die sie darin versteckt hat. Du hättest dich gefragt, warum sie dich nicht genug liebt, um mit dem Trinken aufzuhören. Deine Mutter war Alkoholikerin, Delia. Sie konnte sich nicht um sich selbst kümmern, schon gar nicht um ein kleines Kind. Das ist die wunderbare Kindheit, die ich dir genommen habe. Das ist die Wahrheit, die ich dir vorenthalten habe. Das ist das, was ich dir ersparen wollte.«
    Ich taumele rückwärts, das Telefonkabel streckt sich wie eine Nabelschnur. Ich habe diese Lektion bei meinen Such- und Rettungseinsätzen zur Genüge gelernt: Wenn du dich auf die Suche nach etwas machst, dann mach dich lieber darauf gefaßt, daß du etwas finden könntest, was du nicht erwartet hast.
    »Ich habe dir die Mutter gegeben, die du nicht hattest«, sagt mein Vater flehend. »Wenn ich dir die Wahrheit gesagt hätte - wenn ich dir gesagt hätte, wie sie wirklich war-, wäre das nicht schlimmer gewesen?«
    Nachdem er mir vom Tod meiner Mutter erzählt hatte, bin ich noch fast ein Jahr lang jedesmal an die Tür gelaufen, wenn es klingelte. Ich war ganz sicher, daß mein Vater sich geirrt hatte. Daß meine Mutter jeden Augenblick auftauchen würde, damit wir glücklich und zufrieden zusammen leben können.
    Aber sie tauchte nicht auf. Nicht weil sie tot war, wie mein Vater gesagt hatte, sondern weil sie nie existiert hatte.
    Ich lasse den Hörer aus der Hand fallen und drehe mich um, weg von der Trennscheibe. Ich schaue nicht mehr zu meinem Vater hin, nicht einmal, als er meine beiden Namen schreit und ein Aufseher kommt, um ihn wegzubringen.
    Ich habe Alkohol nie vertragen. Mir ist immer schon nach ein paar Gläsern Bier schlecht geworden.
    Lange Zeit wußte ich nicht, daß Eric Alkoholiker war. Wenn Eric trank, wurde er charmanter und witziger und amüsanter. Die Übergänge waren bei ihm so nahtlos, daß ich erst nach Jahren begriff, warum Eric immer gleich wirkte, ob er nun ein Bier in der Hand hielt oder nicht. Der Grund dafür war nicht der, daß er nicht betrunken wurde, sondern der, daß er kaum mal nüchtern war.
    Die Stimmungskanone, die geometrische Kohlenstoffmodelle aus Zahnstochern und Maraschinokirschen basteln und eine ganze Bar voller japanischer Touristen dazu bringen kann, im Chor »Yellow Submarine« zu singen, verliert an Charme, wenn sie vergißt, dich von der Arbeit abzuholen, und dich belügt, wenn du wissen willst, wo sie die ganze Nacht gewesen ist, und morgens nur dann ein zusammenhängendes Gespräch führen kann, wenn sie einen ersten großen Schluck intus hat. Ich habe so lange gezögert, seinen Heiratsantrag anzunehmen, weil ich nicht wollte, daß mein Kind mit einem unzuverlässigen und selbstsüchtigen Vater aufwächst.
    Wie kann ich also meinem Vater Vorwürfe machen, weil er das genauso empfunden hat?
    Als ich vor dem Haus meiner Mutter halte, bin ich so aufgewühlt, daß ich zittere. Meine Mutter öffnet die Tür, in der Hand einen Mörser; es riecht nach Rosmarin. Sie strahlt mich an. »Komm rein.«
    »Ist es

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