Wainwood House - Rachels Geheimnis
und der dampfende Tee begannen die Kälte aus ihren Gliedern zu vertreiben. Es kostete sie einige Überwindung, die Scones mit Konfitüre nicht herunterzuschlingen, sondern sich an eine vornehme Portion zu halten. Zumindest schien niemand von ihr zu erwarten, dass sie ihre Mahlzeit unterbrach, um durch Geist und Wortwitz zu glänzen. Das verschaffte ihr die Muße, die kleine Gesellschaft unauffällig zu beobachten.
Ihre Mutter und ihre Schwester beherrschten als strahlendes Zwillingsgestirn den Salon, während ihr Vater und Colonel Feltham sich auf einige höfliche Bemerkungen über das Wetter und die Jagdsaison beschränkten. Penny fiel auf, dass die beiden Männer sich nie ansahen und sich nicht das geringste Anzeichen von Vertrautheit gönnten. Sie hätten sich genauso gut auf zwei unterschiedlichen Kontinenten aufhalten können, auch wenn sie Seite an Seite an diesem Teetisch saßen. Penny versuchte sich vorzustellen, was für ein Mann der Colonel gewesen sein musste, als er die junge Rachel vor über zwanzig Jahren hier auf Wainwood geheiratet hatte. Doch was auch immer seitdem geschehen war, hatte nicht dazu beigetragen, die familiäre Bande enger zu schlingen.
Als müsste er die Schweigsamkeit der beiden Gentlemen ausgleichen, unterhielt Lord Nyles die Damen glänzend. Er machte eine tadellose Figur in seinem maßgeschneiderten Anzug und brillierte durch erfrischenden Charme. Kleine Anekdoten seiner Reise wurden ausgepackt und geschickt präsentiert. Er überreichte unaufdringliche Komplimente wie Blumen und ließ Antworten zu Aphorismen werden. Lord Nyles wusste aufs Unterhaltsamste vom Reisen mit Zügen und Schiffen zu berichten und ließ mit seinen Worten die Paläste von Rom und Venedig für seine Zuhörerinnen an Gestalt gewinnen. Wie alle jungen Männer von Stand hatte er zum Abschluss seiner Ausbildung eine ausgedehnte Reise über den Kontinent unternommen. Diese Reise war eine letzte Möglichkeit, im Ausland mit ein paar harmlosen Abenteuern zu flirten, bevor von ihm erwartet wurde, sich daheim nach einer passablen Braut umzusehen und seinem Titel gerecht zu werden.
Doch all das, fand Penny, erklärte keineswegs, warum er sich in einem abgeschiedenen Dorf vor ausländischen Reisenden in einer windschiefen Scheune versteckt hatte. Womöglich, spann sie den Gedanken weiter, hatte Lord Nyles auf seinen Reisen über den Kontinent Schulden der einen oder anderen Art angehäuft, die ebenjene Reiter von ihm eintreiben wollten. Als Penny sich unauffällig eine weitere Mandelmakrone angelte, sah sie gerade noch rechtzeitig auf, um zu bemerken, dass sie nicht als Einzige am Tisch Beobachtungen anstellte.
Nyles Blick schien über das Porzellan und die silbernen Platten hinweg einen Moment zu lange auf ihr zu ruhen, um nur Zufall zu sein. Als er bemerkte, dass sie zu ihm hinübersah, bedachte er sie mit einem unverbindlichen Lächeln, das in keiner Weise darauf hinwies, dass sie sich jemals zuvor begegnet waren. Diese höfliche Geste ärgerte Penny zu ihrem Verdruss so maßlos, dass sie begann, ein wenig nachzubohren.
»Haben Sie Wainwood zuvor schon besucht, Lord Nyles?«, erkundigte sie sich voller Anteilnahme. »Ich könnte mir vorstellen, dass es etwas abseits Ihrer üblichen Reiserouten liegt und Sie es gar nicht erwarten können, Ihre Familie wiederzusehen.«
Neben ihr stellte ihre Mutter ihre Tasse eine Spur zu heftig auf dem Unterteller ab, um Penelope unauffällig zum Schweigen zu ermahnen. Doch Nyles erweckte nicht den Eindruck, von der unverhohlenen Frage unangenehm berührt zu sein.
»Ich hatte noch nie zuvor dieses Vergnügen. Doch Colonel Feltham berichtete mir so anschaulich von der stillen Erhabenheit des Anwesens, die in keinem Wider spruch zu der warmherzigen Gastfreundschaft Ihrer Familie steht, dass ich praktisch nicht umhin konnte, mir mit eigenen Augen ein Bild von Wainwood House zu machen.« Während der junge Lord Penny frohgemut anstrahlte, blickte der nach über zwanzig Jahren in die Heimat zurückgekehrte Colonel Feltham demonstrativ ausdruckslos.
»Ich fürchte, nach den italienischen Palazzos muss Ihnen bei uns alles recht unspektakulär erscheinen«, parlierte Penelope und entging unter dem Tisch nur um Haaresbreite einem Fußtritt von Claire. »Wir können Ihnen nicht mehr als die stillen Freuden des Landlebens bieten. Äcker und Scheunen soweit das Auge reicht …«.
»Ich habe eine besondere Vorliebe für den ländlichen Charme. Was vermögen die Städte uns an Zerstreuung
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