Wainwood House - Rachels Geheimnis
zu mir hinauf.«
So hoffte sie einen Vorsprung herauszuschlagen, um sich eine plausible Erklärung zurechtzulegen und für alle Fragen gewappnet zu sein. Dankenswerterweise schluckten die orientalischen Teppiche jeden ihrer Schritte. Sie passierte ungesehen das Speisezimmer und die Bibliothek. Doch gerade, als sie auf die rettende Treppe zuhielt, hörte sie die gedämpfte Stimme ihrer Mutter durch die Tür des Salons. Einen gnädigen Moment lang schloss Penny die Augen und blieb regungslos stehen. Zu ihrem Leidwesen bewies Genevieve Goodall ein geradezu übernatürliches Gespür, wenn es um die Gegenwart ihrer Kinder ging. Sie schien ihre Sprösslinge durch Wände hindurch zu wittern und machte sie selbst in einem Saal voller Menschen jederzeit aus, insbesondere dann, wenn ihre Kinder ihre Aufmerksamkeit vermeiden wollten. Nun öffnete sich die Tür zum Salon und Beatrice trat heraus. Genau wie zuvor bei Mr Frost blieb ihr Gesicht so ausdruckslos wie das einer Puppe. »Lady Derrington fragt nach Ihnen, Lady Penelope«, richtete sie ungerührt ihren Auftrag aus.
»Gewiss!« Pennys ergebenes Seufzen klang deutlich aus diesem einen Wort heraus.
Sie betrat den Salon und wünschte sich augenblicklich wieder zurück auf die eisige Landstraße. Sechs aufmerksame Gesichter wandten sich zu ihr um. Julian war der Einzige, in dessen Blick Mitgefühl stand. Lord Derrington sah ihr mit milder Resignation entgegen. Ihre Mutter runzelte kaum merklich die Stirn. Claire schenkte ihr ein liebliches Lächeln, das zwar hervorragend zu ihrem cremefarbenen Nachmittagskleid passte, doch ihre Schadenfreude nicht vollends verbergen konnte. Ihre Häme reichte geradewegs bis in ihre himmelblauen Augen hinauf. Die Männer hatten sich erhoben, als Penny hereingekommen war. Zwei von ihnen sah sie zum ersten Mal auf Wainwood. Der ältere von beiden hatte die kerzengerade Haltung eines Soldaten, auch wenn er einen akkuraten dunklen Anzug anstelle einer Uniform trug. Für einen Engländer war seine Haut ungewöhnlich braun gebrannt, die Wangen glatt rasiert, das graue Haar kurz gestutzt. Damit allerdings endete seine zivilisierte Erscheinung auch schon, denn alles an ihm schien für den behaglichen Salon ihrer Mutter eine Spur zu groß geraten. In seinem massigen Gesicht prangte eine Nase, die mehrmals gebrochen worden war, eine wulstige Narbe verunstaltete sein Kinn, und mit seiner kräftigen Statur hätte er auch einen hervorragenden Preisboxer abgegeben.
»Wir haben unverhofften Besuch«, erklärte Genevieve mit ihrer gewohnten Herzlichkeit, die sich auch durch die verwüstete Frisur ihrer jüngsten Tochter und die unangemeldeten Gäste zum Tee nicht aus der Fassung bringen ließ. Sie wandte sich an ihren Gast und wies mit einer einladenden Geste auf Penny. »Darf ich Ihnen meine jüngere Tochter Penelope vorstellen, Colonel. Für gewöhnlich besitzt sie einen Kamm.« Und sich zu Penelope herumdrehend: »Dies ist der Schwager deines Vaters, dein Onkel Colonel Thaddeus Feltham.«
Der Colonel nahm die Vorstellung mit einer knapp bemessenen Neigung des Kopfes zur Kenntnis, während Penelope sich bemühte, ihn nicht wie eine übernatürliche Erscheinung mit offenem Mund anzustarren.
»Es ist mir eine besondere Freude, Sie kennenzulernen«, erklärte sie und bot ihm ihre Hand zur Begrüßung dar. Obwohl es unklug zu sein schien, dem Colonel so zerbrechliche Dinge wie Teetassen oder zarte Finger zu reichen, war sein Händedruck weit angenehmer als der Rest seiner Erscheinung.
Doch der Gast, der sie noch mehr als der unverhoffte Besuch von Colonel Feltham verblüffte, war sein junger Begleiter. Taktisch klug an Claires Seite positioniert, stand der rothaarige junge Mann, der sich im Dorf vor den beiden Reitern in der Scheune versteckt hatte. Er schenkte Penny ein gewinnendes Lächeln, seine dampfende Teetasse in der einen, eine duftende Mandelmakrone in der anderen Hand. So viel Taktlosigkeit wäre bei jedem anderen Gast unangenehm aufgefallen, doch dem jungen Mann verlieh sie einen liebenswürdigen Charme.
Genevieves Stimme gewann deutlich an Wärme, als sie sich ihm zuwandte, denn offenbar konnte auch sie keinen Tadel an ihm finden. »Lord Nyles, darf ich Ihnen meine jüngere Tochter Penelope vorstellen?«, erkundigte sie sich so gewissenhaft bei dem jungen Mann, als könnte er ihr diese Bitte abschlagen.
»Mit dem allergrößten Vergnügen«, erklärte Lord Nyles ernsthaft. Er stellte Tasse und Makrone auf einem zierlichen Tisch ab, um Penny
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