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Waisen des Alls

Waisen des Alls

Titel: Waisen des Alls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Cobley
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bewaldeten Gebiet nahe Zyasla. Jeder Tygraner, der dies sieht, kennt die Bedeutung des Ortes, deshalb habe ich zwei Luftkameras dabei und noch ein paar andere Geräte …«
    Theo vergegenwärtigte sich rasch das wenige, das er von Malachi auf Niwjesta über die Zshahil-Kriege erfahren hatte. Demzufolge waren die Tygraner vor 150 Jahren kurz nach ihrer Landung mit der Forrestal auf Eingeborene getroffen, eine Spezies reptilienartiger Zweibeiner, intelligent, aber rückständig, gegliedert in Stämme, die häufig miteinander im Streit lagen. Bald darauf kam es wegen der Naturreichtümer zwischen ihnen und den Menschen zu Spannungen. Die Zusammenstöße weiteten sich immer mehr aus. Etwa vierzig Jahre nach der Landung hatte sich daraus ein Krieg entwickelt, der in der Nähe eines Fischerdorfs der Zshahil namens Zyasla seinen blutigen Höhepunkt erreichte. Anschließend unterzeichneten die Stammeshäuptlinge der Zshahil einen Friedensvertrag, den Kalten Waffenstillstand, der von ihnen verlangte, ihre Heimat zu verlassen und über das Ostmeer zu einem Kontinent umzusiedeln, der später Ostland genannt wurde. Es war den Zshahil verboten, Ostland zu verlassen, und den Menschen war es untersagt, sie zu besuchen.

    Auf dem Monitor setzte Rawlins seine Erläuterungen fort, während er den Ladekarren über die Lichtung schob. Zweimal blieb er stehen und las etwas von einer Sensorstange ab, die er wieder in den Boden rammte. Anschließend stellte er in der Mitte der Lichtung ein stielartiges Objekt auf. Die Aufzeichnung brach ab, dann wurde eine andere Lichtung angezeigt. Rawlins nannte Zeit und Datum und wiederholte den Messvorgang. Der Vorgang wiederholte sich noch dreimal, während die Schatten länger wurden, dann wandte Rawlins das Gesicht in die Kamera.
    »Die letzte Schlacht war brutal, vor allem ein Handgemenge, an dem angeblich etwa sechshundert Tygraner und eintausend Zshahil beteiligt waren. Wir haben die Zshahil vernichtend geschlagen.« Er schwenkte den Arm über die Lichtung. »Die Gebeine der hier gefallenen Zshahil sind auf einundzwanzig Massengräber verteilt. Insgesamt gibt es 107 Massengräber; den Sensoren zufolge liegen in jedem Grab etwa 1400 Tote, was eine Gesamtzahl von 150 000 ergibt.«
    Am schirmrand scrollten mit Legenden versehene er kaltblauer Bodenscans, Knochen und Schädel dicht an dicht. Als Theo Gideon ansah, bemerkte er, dass dieser gebannt und entsetzt auf den Monitor starrte.
    »Auf der anderen Flussseite gibt es ein weiteres halbes Dutzend ähnliche Lichtungen«, fuhr Rawlins fort. »Heute Morgen bin ich bei einer kurzen Überprüfung auf weitere Massengräber mit sterblichen Überresten gestoßen. In den Geschichtsbüchern aber heißt es, sämtliche Zshahil-Stämme wären mit Schiffen nach Ostland gesegelt. Wie viele Schiffe wären für eine solch umfassende Evakuierung nötig gewesen? Zyasla war nur ein Fischerdorf, aber landeinwärts gab es weitere Siedlungen. Und noch eine Frage -
weshalb gab es seit dem Kalten Waffenstillstand keinerlei dokumentierten Kontakt mehr mit den Zshahil?«
    Rawlins sprach weiter; seine Enthüllungen waren wie Hammerschläge, die unerbittlich die grauenhafte, unleugbare Wahrheit einbläuten, die sich in einem einzigen Wort zusammenfassen ließ - Völkermord. Die Videoaufzeichnung lief fast eine Stunde, bis zum letzten, quälenden, als Rawlins’ Grabdrohne eine Grube freilegte und erdverkrustete Klumpen von Gebeinen hervorholte.
    Irgendwann war die Sternenfeuer aus dem Hyperraum ausgetreten, hatte den Zielpunkt erreicht und abgebremst. Als Rawlins seinen Bericht abschloss, herrschte auf der Brücke und im ganzen Schiff gedrückte Stille. »Die Gerüchte sind tot, zurückgeblieben ist die finstere Wahrheit«, sagte er. »Aber wird die Wahrheit befreiend wirken, oder wird sie uns verdammen?«
    Doch das war noch immer nicht das Ende. Das Gesicht des Instruktors verblasste, dann sah man plötzlich den kranken, erschöpften Mann, der bis eben vor der Steuerung des Bund-Schiffes gesessen hatte.
    »Gideon«, sagte er. »Wenn Sie das sehen, lebe ich nicht mehr. Trauern Sie nicht, mein Freund - ziehen Sie los und kämpfen Sie! Verwenden Sie diese Aufzeichnung und die beigefügten Daten dazu, Becker die Kommandanturen zu entreißen. Zunächst aber sollten Sie Ihre Männer befreien - 148 von ihnen werden von Nathaniel Horne im Stützpunkt Wolf gefangen gehalten. Die gültigen Zugangscodes finden Sie in einem der beigefügten Dokumente. Leben Sie wohl, Gideon. Unsere

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