Walburgisöl - Oberbayern-Krimi
Jugendlichen rund um das Springerbecken anstarrten. Als wäre er binnen Sekunden zum geheimen Mittelpunkt des Freibads geworden. Sein Herz begann wie wild zu schlagen.
»Was ist jetzt? Springen Sie?«, fragte eine Stimme hinter ihm. Der Knirps war bis auf zwei Meter herangerückt, triefnass und mit verschränkten Armen, die wohl signalisieren sollten, dass hier am Sprungbrett Trödler die Ausnahme waren.
Morgenstern schaute wieder aufs Wasser, und zu seinem Kummer bemerkte er, dass aus dem Nirgendwo nun auch Fiona aufgetaucht war und zu ihm hochblickte. Seine Jungs hatten bereits erkannt, dass der Vater in einem Gewissenskonflikt steckte. Jedenfalls rief Bastian mit verschwörerischer Miene herauf: »Mach’s wie ich. Mach die Augen zu und spring einfach.«
Fiona hielt sich demonstrativ eine Hand vor die Augen, als könne sie es nicht mit ansehen, wie ihr Mann sich blamierte. In Morgensterns Hirn schlugen die Gedanken Funken. Ein endloser Sturz in die Tiefe: Das war der Alptraum, der ihn seit seiner Kindheit immer wieder heimsuchte. Und überhaupt: War es nicht viel mutiger, wenn man seine Angst offen eingestand? Wenn er sich den Erwartungen seiner Mitmenschen frank und frei widersetzte? So würde er das seinen Kindern erklären, mit dem Hinweis, das sei eine Lektion, die sie erst noch lernen müssten. Wahre Größe zeige sich erst in der Verweigerung. Nur Dummköpfe sterben den Heldentod. Basta.
Morgenstern wollte sich eben umdrehen, um zur Leiter zurückzukehren, hinabzusteigen zu seiner Familie, festen Boden unter den Füßen zu bekommen – da spürte er einen leichten Druck an seinem Hintern. Den Druck von zwei kleinen Handflächen, die einen winzigen Schubs ausführten. Der Knirps hatte die Geduld verloren. Morgenstern kam aus dem Gleichgewicht, geriet in Schräglage, ruderte noch kurz mit den Armen und stürzte dann in die Tiefe. Drei Sekunden später schlug er in grotesk verwinkelter Körperhaltung auf dem Wasser auf.
»Ich wäre sowieso gesprungen«, erklärte er seiner Familie, als er aus dem Becken stieg. »Man muss mir nur ein bisschen Zeit lassen.« Und zu den Kindern gewandt meinte er: »In der Ruhe liegt die Kraft.«
»Dann kannst du ja gleich noch mal springen, wenn du dich traust«, forderte Marius.
Fiona schaltete sich ein. »Ich denke, wir sollten den Papa nicht überfordern. Unseren Helden .«
Das konnte Morgenstern nicht auf sich sitzen lassen. Er warf Marius und Fiona einen zornigen Blick zu, und ehe noch jemand etwas sagen konnte, war er schon beim Sprungturm und kletterte die Leiter hoch. Er umrundete das Drei-Meter-Brett, nahm die nächste Leiter, ignorierte das Schild mit der Aufschrift »Gesperrt!«, stieg weitere zwei Meter nach oben, erreichte die Fünf-Meter-Rampe und ging entschlossenen Schrittes an den Rand. Dann machte er die Augen zu, trat einen Schritt nach vorne und sprang, ohne auch nur einen Blick auf seine Familie oder auf das tief unter ihm liegende Becken geworfen zu haben, ins Bodenlose.
MITTWOCH
Am nächsten Morgen kam Morgenstern leicht verkatert im Polizeipräsidium an – es war keine gute Idee gewesen, seinen Turmspringertriumph mit mehreren Flaschen Bier zu feiern. Zumal er am frühen Vormittag ins »Wohnparadies Schreiber« im Ingolstädter Gewerbegebiet sollte. Hecht hatte den Termin mit dem Ehepaar Schreiber für neun Uhr dreißig vereinbart. Es blieb also gerade noch Zeit für einen Kaffee.
Morgenstern trank seinen schnell und gierig – und wie immer schwarz, aber mit extra viel Zucker. Hecht sah sich seinen angeschlagenen Partner von der Seite an.
»Passiert relativ oft bei dir, wenn ich das mal so sagen darf. Ich würde fast meinen: regelmäßig.«
Morgenstern errötete. »Nein, nein, es war gestern nur so gemütlich zu Hause, und ich hatte außerdem was zu feiern: Bin im Freibad vom Fünfer gesprungen.«
Hecht schüttelte ungläubig den Kopf. »Kann es sein, dass du in der Midlife-Crisis steckst und dir irgendwas beweisen musst?« Er sah Morgenstern nachdenklich an. »Wenn ich dir einen Tipp geben darf: Pass mal ein bisschen besser auf dich auf und nimm hin, dass du keine achtzehn mehr bist. Im Klartext: Kauf dir mal eine Kiste Hofmühl alkoholfrei und schau, ob du die leer kriegst. Und falls du daheim noch Jägermeister-Restbestände hast, kippst du sie in den Ausguss. Versuch mal einen Monat lang, abends ohne Alkohol zu entspannen. Ganz im Ernst: Wer kennt schon die Flaschenaufschrift vom Jägermeister auswendig?«
Morgenstern wollte
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