Walburgisöl - Oberbayern-Krimi
konntest du dir sicher sein, dass du Matthias Schreiber tödlich treffen wirst? Wo hast du das Schießen trainiert, doch wohl kaum im Schützenverein?« Morgenstern konnte sich nicht vorstellen, wo ein junger Mann mitten in Bayern heimlich seine Treffsicherheit testen konnte, ohne dass ihm im Nu die Polizei auf der Spur war.
»Eigentlich wollte ich tatsächlich zum Schützenverein, aber dann ist das alles viel einfacher gegangen. Da kommst du nie drauf: Ich habe auf dem Volksfest geübt. Ganz unauffällig, als wäre es ein Riesenspaß.«
Morgenstern sparte sich einen Kommentar.
»Die alten Luftgewehre am Volksfest sind den Wehrmachtskarabinern ziemlich ähnlich«, erklärte Jonas weiter.
Morgenstern konnte immer besser sehen, sei es, weil sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, sei es, weil draußen allmählich der neue Tag anbrach und sein erstes diesiges Licht durch die kleinen Dachluken sendete. »Was mich noch interessieren würde: Was hast du heute Nacht mit dem alten Anton Bruckmair angestellt?«
Eine halbe Minute lang blieb es still. Dann sagte Jonas mit leiser Stimme: »E 605. Ein altes Pflanzenschutzmittel. Das ist längst verboten. Aber meine sparsame Oma hat noch fast einen ganzen Kanister davon in ihrem Gartenschuppen hinterm Haus. Sie verwendet das Zeug immer noch, wenn ihre Rosen im Garten Blattläuse haben. Sehr effektiv. Ich habe ihr ein paarmal dabei geholfen. Sie wollte es auch immer bei ihrem Kopfsalat anwenden, aber das habe ich ihr ausgeredet.«
»Wusste sie, dass du dir von diesem giftigen Zeug etwas abgezweigt hast?«
»Sie musste ja nicht alles wissen, sonst hätte sie sich nur unnötig Sorgen gemacht. Nein, das war allein mein Ding. Auch wenn sie sich vielleicht ihren Teil gedacht hat, als ich mich für die Zivistelle im Spital beworben habe.«
In diesem Moment läutete Morgensterns Handy. Mühsam fummelte er es aus der engen Brusttasche seiner Jeansjacke; dabei fiel ein kleiner Zettel mit heraus. Morgenstern erkannte im Zwielicht den Gebetszettel, den er zusammen mit dem Fläschchen Walburgisöl im Kloster bekommen hatte. Er bückte sich, hob den Zettel auf und knüllte ihn ungnädig in die Hosentasche.
»Was ist?«, brummelte er ins Handy.
»Ich bin’s, Peter. Wo steckst du denn?«
»Ich bin im Speicher der Spitalkirche, zusammen mit Jonas Zinsmeister. Er ist voll geständig. Komm zu mir rauf, ich warte an der Tür auf dich. Lass dir den Weg von einer Pflegerin zeigen.« Er wollte schon auflegen, dann dachte er an den vergifteten Anton Bruckmair: »Da unten ist ein bewusstloser alter Mann. Er hat E 605 abbekommen, hast du mich verstanden. E 605! Sag das dem Arzt. Und beeil dich.«
Morgenstern legte auf. Er musste sich jetzt um Jonas kümmern und ihn zur Tür dirigieren.
»Ich denke, wir haben lange genug Verstecken gespielt«, sagte er in Richtung der Ölbilder. Wie er mittlerweile erkannt hatte, handelte es sich um Darstellungen verschiedener Heiliger, gemalt in kitschig-süßlichem Stil.
»Komm endlich raus«, sagte er zum Bild eines fast nackten, an einen Pfahl gefesselten jungen Mannes, der von mehreren Pfeilen durchbohrt fromm die Augen gen Himmel richtete. Als alles still blieb, schlich Morgenstern ganz langsam in Richtung der Bilder. Vorsichtig umrundete er den Schrank, die Pistole in der rechten Hand.
Jonas war verschwunden.
Verwirrt sah Morgenstern sich in alle Richtungen um. Ein lautes Quietschen ließ ihn herumfahren, und jetzt sah er ihn: Jonas Zinsmeister hatte sich lautlos zu einer der Luken im Kirchendach bewegt und sie nun mit einem entschlossenen Griff geöffnet. Entsetzt sah Morgenstern, wie der junge Mann sich mit einem souveränen Klimmzug durch das schmale Fenster schwang und nach einem kurzen Moment des Zögerns ins Freie verschwand.
Wie alle Kirchendächer war auch das Dach der Spitalkirche extrem steil. Die Fenster befanden sich etwa zwei Meter über der Dachrinne, und als Morgenstern endlich mit Hilfe eines alten Nachtkästchens seinen Oberkörper ins Freie schieben konnte, sah er im trüben Nebel der Morgendämmerung, wie Jonas Zinsmeister, der geübte und völlig schwindelfreie Kletterer, in der Regenrinne an der Traufe des Dachs entlangbalancierte, die Arme weit vom Körper gespreizt. Unter ihm, wohl fünfzehn Meter tiefer, floss dunkel die Altmühl in ihrem Bett, von der Kirchenmauer nur durch einen fünf Meter schmalen Gartenstreifen getrennt.
»Spinnst du!«, schrie Morgenstern panisch, doch Jonas drehte sich nicht einmal um,
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