Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Blutes«, den ihre Tante verwendete, hatte Ayfer schon als Kind gefallen. Sie breitete ihr Tuch an einer Stelle aus, an der Burhan sie nur betrachten konnte, wenn er sich umwandte oder zumindest den Kopf drehte, legte sich auf den Bauch und machte die Augen zu. Hinter ihren Lidern war es dunkler, als sie erwartet hatte.
Die Stimmen der anderen Leute erinnerten sie genauso an verdöste Sommernachmittage im Schwimmbad von Suhr wie das Kreischen der badenden Kinder und das Klatschen der Körper, die auf dem Wasser aufschlugen. Das Zischeln der Wellen, die sich im Sand verliefen, klang, als zerreiße jemand in schläfrigem Tempo Papier, Seite um Seite, dicht an ihrem rechten Ohr.
Ich bin nichts, also kann ich alles sein.
Ich bin niemand, also kann ich jede sein.
Ich werfe mich herum und bekomme, beide Vorderpfoten erhoben, den ersten Pfeil in die Brust, tief fährt er mir ins Fleisch. Nun kläffen die Hunde. Hier stehe ich, den zweiten Pfeil mitten im Gesicht, sieh mich an und fürchte mich! Ich stehe mit gespaltener Nase vor Deinem prachtvollen Wagen in unserer Schlacht und sage Dir: Ich kriege Dich, König.
Ich kriege dich!
Ayfer schreckte zusammen. Das Halbschlafbild war gebieterisch vor ihr erschienen, und sie hatte gleich gewusst, ohne es zu begreifen, es ist von mir erfunden, ein Traum, ein Wunsch. Ich möchte vor Burhan auf die Hinterbeine, um ihn mit meinem Fauchen in die Flucht zu schlagen. Fürchte mich! Sie drehte sich auf den Rücken, spürte seinen Blick über ihren Körper gleiten und öffnete die Augen. Er sah sie an, als habe er die Macht, den Zauber des Bildes zu zerstören. Wenn du wüsstest! Sie spürte schwirrende Leichtigkeit, wie nach einer überstandenen Grippe, und war für eine Sekunde versöhnt mit ihrem Onkel und ihrer Tante. Jetzt erinnerte sie sich plötzlich ganz genau, wie Davor aussah, sie hätte ihn zeichnen können: seine dunklen Augen, seine schmale Nase, seinen Mund, seine kleinen Ohren, die Haare, rabenschwarz und immer so, als seien sie nass, als sei er eben aus einem reißenden Fluss gestiegen. Er war schöner, als er es in ihrer Angst, sein Gesicht vergessen zu haben, gewesen war. Reifer und erwachsener. Ein Mann, kein Kind. »Wenn ich mich vor jemandem fürchte, dann vor mir selbst«, hatte er ihr schon bei ihrem zweiten Date gesagt, und den Satz angehängt: »Wer lügt, ist einsam.«
Wenn er gekränkt war, und dazu brauchte es wenig, sagte er grobe Sachen zu ihr und gab sich alle Mühe, sie zu verletzen. Sie nahm es hin, weil sie hoffte, dass er es nur tat, weil sie ihm genauso viel bedeutete wie er ihr. »Ich werde nie sagen, ich liebe dich, um dich zu trösten oder aufzumuntern oder zu erpressen, damit du es mir auch sagst, das verspreche ich dir, und jetzt, jetzt sage ich es«, hatte er gesagt: »Ich liebe dich, Ayfer.«
»Ab nächster Woche trägst du den Türban«, sagte ihr Onkel so beiläufig, als rede er übers Wetter.
War es klüger, den Mund zu halten oder zu nicken? Ayfer blieb ruhig liegen und atmete flach.
»Sich bedecken ist schön«, sagte Yeter.
»Sich nicht bedecken ist Sünde!«
»Warum?«, fragte Ayfer, ohne ihren Onkel anzusehen.
»Die Frage ›warum‹ gibt es nicht bei uns, Ayfer! Der Koran erklärt alles, man muss ihn nur lesen!«
Jetzt war die Onkelstimme in die Tiefe gekippt und hatte den Unterton, der darauf hindeutete, dass er bald die Beherrschung verlieren würde. Ein Wort des Widerspruchs genügt, dann springt er auf die Beine und schreit.
»Meine Eltern wollen das nicht«, sagte sie und sah ihm in die Augen.
»Und ob das deine Eltern wollen! Du lebst jetzt hier bei uns, nicht bei meinem Bruder Celik in der Schweiz! Du lebst jetzt hier bei uns in der Türkei. Und du wirst den Türban tragen!«
Bis jetzt hatte Ayfer noch nie vor ihrer Tante oder ihrem Onkel geweint. Sie hatte die Kraft, ihre Tränen zurückzuhalten, und wollte ihnen nichts in die Hand geben, dass sie gegen sie verwenden könnten; schon gar nicht ihre Schwäche. Auch ihr unechtes, gespieltes Weinen hatte sie bis jetzt noch nicht eingesetzt, das Weinen, das auf Mitleid setzte und bei ihren Eltern beängstigend gut funktionierte, bei ihrem Vater besser als bei ihrer Mutter. Es fiel ihr leicht, künstlich zu weinen, sie brauchte nur an etwas Trauriges zu denken; ihre Tränen halfen den Eltern, aus ihrer Wut auf sie herauszufinden, ohne das Gesicht zu verlieren. Ihr Vater war machtlos gegen ihre Tränen. Aber vor Burhan oder Yeter werde ich unterkeinen Umständen weinen,
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