Wald aus Glas: Roman (German Edition)
nahm sie sich vor und hielt kurz die Luft an, weder gespielt noch aus Trauer oder vor Wut.
»Wir gehen!«
Ihr Onkel, das verriet seine Stimme, duldete keinen Widerspruch. Ayfer stand sofort auf, schlüpfte in ihr Kleid und in die Flip-Flops. Ich bin nicht so herzlos, wie ich mich gebe, dachte sie. Ich bin nicht einmal so herzlos, wie ich mich fühle. Sie ging einen halben Schritt hinter Burhan und Yeter her, das bockige Kind, das sich erst beruhigen muss. Wenn sie sich mit ihren Eltern gestritten hatte, erzählte ihre Mutter ihr jeweils eine glückliche Episode aus ihrer Kindheit in Amasra, um ihre Gunst zurückzugewinnen. Ihre Mutter schmeichelte sich bei ihr ein, um sich mit ihr zu versöhnen; die Traurigkeit, die das bei Ayfer auslöste, kippte leicht in neue Wut auf die Mutter, die mit zarter Mädchenstimme von früher erzählte.
Das Meer war silberbeschichtet, es flirrte, wogte. Die Betontreppe, die auf die Strandpromenade hinaufführte, trug einen Pelz aus Moos. Ein dicker Tourist war rot wie ein Krebs, es roch nach Sonnenöl. Der Mann mit den weißen Haaren, der im Hotel des Onkels wohnte, saß am Rand des Strandes im Sand; er hatte weder ein Badetuch noch eine Matte dabei und las in einem Buch. Sein Oberkörper war nackt, aber er trug Jeans. Als er sie sah, hob er die Hand und winkte ihnen zu. Du gehörst auch nicht hierher, dachte Ayfer und winkte zurück, ohne sich darum zu kümmern, was ihr Onkel davon hielt.
9
Hausmanns Schreinerei und der angebaute Ziegelschuppen hätten schon vor Monaten abgerissen werden sollen, deswegen war Roberta schließlich von der Polizei aus ihrer Wohnung über der Schreinerei ins Altenheim gebracht worden, aber der Spekulant, der auf dem Grundstück Eigentumswohnungen mit Seesicht bauen wollte, saß in Untersuchungshaft.
Mittlerweile waren die Fensterscheiben der Schreinerei eingeworfen, die Wände mit Graffiti besprayt worden. Auf dem Kiesplatz vor der Schreinerei hatte sich Unkraut ausgebreitet, die Steintreppe, die zur Eingangstür hinaufführte, versank in Brennnesseln. Das Gras auf dem Grundstück wurde nicht mehr gemäht, es stand ihr bis zur Hüfte, der Zaun gegen die Bahnlinie war im Dickicht verschwunden. Und der gemauerte Schornstein, zusammengehalten von Stahlreifen, hatte sich bedrohlich zur Seite geneigt, als wisse er, dass er demnächst abgerissen würde. Roberta wollte ihre frühere Wohnung nicht sehen, nicht einmal von außen, darum hielt sie den Blick gesenkt, als sie an der Schreinerei vorbei auf den Ziegelschuppen zuging. Sie hatte dem behördlichen Beistand, der sie seit ihrem Zwangsumzug betreute, zwar die Wohnungsschlüssel übergeben, aber den Schlüssel zum Dachboden des Schuppens hatte sie behalten.
Das Tor war mit einer Eisenkette und einem schweren Vorhängeschloss gesichert; aber sie wusste, dass sich die Sperrholzplatte, die das Fensterloch neben dem Tor abdeckte, herausheben ließ. Sie trat auf die Backsteine, die sie in einem Busch wilder Minze verbarg, und stieg in den Schuppen. Dasehemalige Lager roch modrig, das Dach war undicht. Was wohl mit dem Holz geschehen war? Nur ein Stapel Furnierplatten war übrig geblieben; die Platten hatten sich verbogen wie feuchtes Papier und waren mit Schimmel bedeckt. Das steinerne Waschbecken war zerschlagen worden, genau wie das Geländer der Treppe, die an der hinteren Wand auf den Dachboden hinaufführte. Unter den Deckenbalken nisteten Vögel, die Holzstufen waren mit Mäusekot bedeckt. Sie steckte den Schlüssel mit dem altmodischen langen Bart ins Schloss und stieß die Tür auf: Wärme schlug ihr entgegen. Die Ziegel speicherten die Sonne des Tages und strahlten sie ab, das hatte Roberta hier oben immer gefallen. Der Dachboden war unverändert; Hausmann hatte den abgeschrägten Raum mit defekten Schleifmaschinen, Bandsägen, Fräsen und ausrangierten Werkbänken vollgestellt. Die Ordner mit den abgelegten, mittlerweile aufgequollenen Bestellscheinen, Rechnungen und Quittungen wurden in einem Metallspind aufbewahrt, auf dem die Schreibmaschine stand, mit der Roberta früher die Büroarbeiten der Schreinerei erledigt hatte, eine Remington, schwer und schwarz, die klingelte, wenn das Zeilenende erreicht war. Durch fehlende Ziegel fielen Sonnenbahnen, staubig flirrend, die sich so deutlich vom Zwielicht abhoben, als könnte sie sie wie Masten aus Licht anfassen.
Roberta langte hinter den Reifenstapel in der Ecke des Dachbodens, ergriff den Rucksack und zog ihn hervor. Sie hatte den Rucksack immer
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