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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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einzustecken, doch dann überlegte sie es sich anders: Diesmal würde sie auch das Buch mitnehmen, nicht nur die Liste. Jemand wollte offensichtlich, dass sie es las. Irgendwo fand sich bestimmt Platz dafür in ihrem Rucksack. Sie wollte versuchen, »Frost« zu lesen.
    Schon das zweite Wort des Romanes verstand sie nicht: »Famulatur«. Sie stand auf und holte den 5. Band des Brockhaus aus dem Regal mit den Nachschlagewerken. Der Begriff »Famulatur« war nicht erklärt. Was er wohl bedeutete? Auch im Bedeutungswörterbuch fand sie das Wort nicht; erst das Fremdwörterlexikon half ihr weiter: Praktikum eines Famulus im Krankenhaus. Ein Famulus, las sie weiter, war ein Medizinstudent, der im Krankenhaus sein Praktikum ableistet. Sie legte»Frost« auf den Tisch und fing an, die zurückgebrachten Bücher in die Regale einzureihen.
    Kurz darauf ging ein Gewitter über dem Seetal nieder. Regentropfen, vom Wind zwischen die Trakte des Altenheimes getrieben, prasselten über die Scheibe. Donnerschläge ließen das Glas zittern. Roberta legte die Bücher aus der Hand und sah zu, wie Blitze den finsteren Himmel erhellten, als werde er von riesengroßen Fotoapparaten abgelichtet, Bild um Bild.

8
    Das Wasser war kälter, als Ayfer erwartet hatte, viel kälter. Es schnürte ihr den Atem ab, als sie den Grund unter ihren Füßen aufgab und untertauchte. Sie streckte den Körper aus, von den Zehen bis in die Fingerspitzen, dehnte sich und stellte sich vor, ein Pfeil zu sein, der über dem Grund dahinschoss, ein Fisch in Menschengestalt. Erst als sie auftauchte, ein Stück vom Ufer entfernt, machte sie die Augen auf. Das Meer war nicht so unruhig, wie es vom Strand aus gewirkt hatte, doch die Strömung war stark; die Dünung hob sie in die Höhe und trug sie langsam vom Strand weg, auf die Spitze der Mauer aus Steinquadern zu, die den Strand schützte. Der Gedanke, aus dem Schutz der Hafenmauer ins freie Meer hinauszuschwimmen und irgendwo weit weg von ihrem Onkel und ihrer Tante an Land zu gehen, machte sie unruhig; sie spürte ein Brennen in der Brust, spürte, wie sich die Muskeln in ihren Oberarmen anspannten. Dann fiel ihrein, dass sie keine gute Schwimmerin war. Und dass sie sich vor dem Tiefblau des bodenlosen Wassers fürchtete.
    »Komm zurück!«
    Yeter stand am Ufer und winkte mit beiden Armen. Der schwarz-weiß gestreifte Leuchtturm von Sile stand genau hinter der Tante, als sei sie an ihm festgebunden. Yeter steht am Marterpfahl und weiß es nicht, dachte Ayfer. Sie fing an, auf das Ufer zuzuschwimmen, langsam und ohne ihrer Tante die Genugtuung zu geben, mit einem Handzeichen zu verstehen zu geben, dass sie ihr gehorchte. Ich schwimme ans Ufer, weil ich es will, nicht, weil sie es mir befohlen hat. Ihr Onkel hockte auf einem Klappstühlchen, er hatte weder Hosen noch Hemd ausgezogen und sah aus wie ein Mann, der etwas bewachte. Seine Schuhe standen vor ihm im Sand, die Socken hatte er hineingestopft. Die Sonne war so grell, dass der Strand zu einem flirrenden Gebiet wurde, das über dem Erdboden schwebte, reduziert auf Gelb- und Ockertöne; die Gesichter der anderen Badegäste waren ausgelöscht, einzig Yeters und Burhans Züge konnte sie erkennen. Ayfer hatte die verstörende Vorstellung, sie selbst und ihr Onkel und ihre Tante gehörten plötzlich einer anderen Spezies als alle anderen an und sie sei ihnen damit für den Rest ihres Lebens ausgeliefert, wenn sie sich nicht allein durchschlagen wollte. Sie schwamm so langsam sie konnte, trotzdem kam das Ufer schnell näher. Yeter stand in einem Shirt mit langen Ärmeln und einem Rock, der über die Knie reichte, bis zu den Knöcheln im Wasser, auch den Türban trug sie. Wenn sie ein besserer Mensch wäre, würde ich keine Verachtung für sie empfinden, sondern Mitleid. Ayfer erhob sich erst auf die Beine, als das Wasser so seicht war, dass sie den Sand mit ihrem Oberkörper berührte.Die Blicke ihrer Tante, die ihren Körper absuchten, als sei er vielleicht infiziert, waren ihr beinahe so unangenehm wie das hemmungslose Gaffen ihres Onkels. Sie ging wortlos neben Yeter über den warmen Sand – warum fiel ihr erst jetzt auf, dass ihre Tante die Zehennägel silbern lackiert hatte? –, nahm ihr Badetuch, trat schräg hinter ihren Onkel und trocknete sich schnell ab. Vor ein paar Tagen hatte sie mitbekommen, wie Yeter zu ihrem Mann gesagt hatte, Ayfer sei in der Pubertät und darum schwierig. Der türkische Begriff delikanli für die Pubertät, »Zeit des verrückten

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