Wald aus Glas: Roman (German Edition)
wieder umgepackt und anders eingeräumt. Und obwohl sie überzeugt war, nichts mehr verbessern zu können, öffnete sie ihn noch einmal, um alles herauszunehmen und auf dem Bretterboden auszulegen. Sie liebtees, die Dinge in die Hand zu nehmen und zu betrachten: den Gaskocher, die Ersatzkartusche, die zwei Pfannen mit den abnehmbaren Griffen, die ineinander passten, das raupenförmige Biwakzelt, nur 900 Gramm schwer, das extraleichte Besteck, die zwei Teller aus Aluminium, den Kompass, den Regenüberwurf, das Spezialfeuerzeug, die Taschenlampe und das aufblasbare Kopfkissen. Der junge Verkäufer des Outdoor-Geschäftes, der sich um sie gekümmert hatte, war mit einer Ernsthaftigkeit auf ihre Wünsche und Fragen eingegangen, die sie anfangs beschämt hatte. Doch dann hatte sie begriffen, dass ihr genau dies half: dass jemand sie ernst nahm und auf sie einging. Sie war keine alte Irre, über die man lachte, der man hinter ihrem Rücken den Vogel zeigte. Sie war eine alte Frau mit einem Plan, einer Aufgabe. Und das hatte der junge Mann mit den kurzen Haaren begriffen; irgendwann hatte er ihr sogar erzählt, dass er sich auch auf die Reise machen werde, bald, und dass er sie, die alte Frau, für ihren Mut nicht nur akzeptiere, sondern bewundere.
Der Diavortrag fand in der Aula statt, in der auch Weihnachten und runde Geburtstage gefeiert wurden und in der der gemischte Chor und die Theatergruppe des Altenheimes probten. Der Boden war vor kurzem gebohnert worden, er glänzte im Licht der Kugelleuchten, die über den Stuhlreihen hingen, wie eine Eisbahn.
Der Mann, der den Vortrag hielt, hatte seine Leinwand vor der Bühne aufgespannt und ging händereibend auf und ab, wobei er sich unsicher umblickte. Roberta setzte sich in der hintersten Reihe auf den Stuhl am Rand und schloss die Augen. Sie war eine Bewohnerin wie jede andere auch, diesenEindruck musste sie vermitteln, erschöpft vom Leben und gelangweilt vom Alltag und darum dankbar für jede Unterhaltung, jede Ablenkung. Sie würde sich den Vortrag anhören wie alle anderen auch, sich danach ins Bett legen und darauf hoffen, so schnell wie möglich einschlafen zu können. Dass sie nach Mitternacht aufstehen würde, ohne Licht zu machen, dass sie sich anziehen und vom Dachboden des Ziegelschuppens ihren gepackten Rucksack holen würde, das vermutete hier in dieser Aula bestimmt niemand.
»Ah, die Frau Kienesberger«, sagte Frau Gabathuler und wollte ihr die Hand auf den Arm legen, hielt sich aber im letzten Augenblick zurück, »schön, sind Sie hier bei uns!«
Ich bin nicht die Frau, die bleibt, dachte Roberta, ich bin die Frau, die geht, doch das wisst ihr nicht, ihr ahnt es noch nicht einmal. Sie lächelte und blickte nach vorn, die Hände auf den Knien. Ihre Strumpfhose, das sah sie erst jetzt, hatte eine Laufmasche über dem rechten Knie.
»Sie interessieren sich also für Kakteen?«
Frau Gabathulers Stimme klang falsch, nicht verlogen, aber falsch, als gebe sie sich zu viel Mühe. Sie roch wieder nach Pfefferminz, griff mit spitzen Fingern in ihre hochgesteckten Haare und sah sie prüfend an.
»Seit meiner Kindheit«, log Roberta.
Frau Gabathuler schnippte mit den Fingern, als habe sie sich genau diese Antwort gewünscht, dann ging sie auf den Mann zu, der sie vor der Leinwand erwartete, beide Arme ausgebreitet. Erhoffte er sich, von ihr umarmt zu werden? Frau Gabathuler blieb abrupt stehen und reichte dem Mann förmlich die Hand. Kakteen? Roberta machte sich nichts aus Zimmerpflanzen und war noch nie in einem Land gewesen,in dem Kakteen in der freien Natur wuchsen. Ihr Sohn hatte ihr einmal einen Kaktus geschenkt, wohl zum Geburtstag, das Töpfchen hatte eine Zeitlang auf dem Sims des Wohnzimmerfensters gestanden.
Frau Gabathuler trat vor die aufgespannte Leinwand, klatschte in die Hände, begrüßte den Gastredner und wünschte allen Anwesenden einen »lehrreichen Abend«, dann gab sie Benassa, dem Hausmeister, das Zeichen, das Saallicht zu dimmen. Die meisten Stühle der Aula waren besetzt; es war stickig, es roch nach Haarspray, Deodorant und der Hirsesuppe, die es zum Nachtessen gegeben hatte. Der Mann, der neben Roberta saß, trug Ledersandalen und Wollsocken. Als er bemerkte, dass sie seine offenen Schuhe betrachtete, hob er die Hand, den kleinen Finger abgespreizt, und klopfte die Asche einer unsichtbaren Zigarette ab, ohne eine Miene zu verziehen.
Die Stimme des Redners war angenehm, sie erinnerte Roberta an Gstättner, den einzigen Lehrer in
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