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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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Ebensee, zu dem sie gerne zur Schule gegangen war. Aus dem Fenster des Schulzimmers – sie hatte die Aussicht deutlich vor Augen – hatte man über eine Wiese hinweg zum mit Tannen bewachsenen Hang hinübergesehen, auf dessen Anhöhe die Gedenkstätte für das ehemalige KZ stand. Der Mann vor der Leinwand trug sandfarbene Leinenhosen und eine Armbanduhr, die blitzte, wenn er die Hand hob.
    »Meine Damen und Herren«, sagte er, »manche Fachleute behandeln Kakteen und Sukkulenten getrennt. Dies kann zu einiger Verwirrung führen. Es gibt jedoch eine einfache Regel, die Klarheit schafft: Alle Kakteen sind Sukkulenten, merken Sie sich das bitte, aber nicht alle Sukkulenten sind Kakteen.«
    Das Schnarchen, das in einer der vorderen Sitzreihen anhob, und das fast gleichzeitig einsetzende Zischeln von Frau Gabathuler passten wie abgesprochen zum ersten Dia, das auf der Leinwand erschien: Es zeigte einen einsamen Kaktus, hoch und schlank wie ein Telefonmast, in einer leeren Wüstenlandschaft. Da die Sonne tief hinter dem Kaktus stand, sah es aus, als sei er von einer Lichterkette eingefasst, derart blendend weiß stach sein Umriss vom weiten Himmel ab.

10
    Die Füße taten ihr weh, und sie hätte sich gerne eine Weile ausgeruht, aber das Restaurant war bereits wieder bis auf den letzten Platz besetzt. Ayfer lief von Tisch zu Tisch mit den bestellten Getränken. Yeter hatte sie zu Beginn der Abendschicht am Arm genommen und ins Restaurant geführt, vorbei an ihrem Onkel, der im Unterhemd in der Küche stand, mit glühenden Wangen unsinnige Befehle erteilte, nach Schweiß stank, mit den Armen fuchtelte und wüste Flüche ausstieß. Donnerstags war er noch gereizter als sonst, weil er dann, als Vorbereitung auf den folgenden Tag, an dem er die Moschee besuchte, keinen Alkohol trank. Um seinen Blicken zu entgehen, hatten die Köche mit gesenkten Köpfen gearbeitet, die Kellnerinnen waren ihm ausgewichen. Ayfer war ihrer Tante dankbar, dass sie es ihr ermöglichte, Burhan aus dem Weg zu gehen. »Donnerstag hältst du dich besser fern von Baba«, hatte sie gesagt, ohne Ayfers Lächeln zu erwidern.
    Wenn Ayfer die Augen schloss, war ihr leicht schwindlig. Sie gab sich alle Mühe, nicht an Davor zu denken, trotzdem fiel er ihr immer wieder ein. Sehnsucht, das wusste sie erst, seit sie in der Türkei und wirklich von ihm getrennt war, war nicht nur ein Gefühl, das einen zappelig und unsicher machte, Sehnsucht war ein Schmerz, der tief in der Brust saß und brannte wie ein Feuer, das mit jedem Gedanken an den Menschen, nach dem man sich sehnte, neue Nahrung bekam. Ein Feuer, das nur zu löschen war, indem man wieder mit eben diesem Menschen zusammen sein durfte. »Ein einziger Mensch fehlt dir, und die ganze Welt ist leer«, hatte Deutschlehrer Mattmüller an die Wandtafel geschrieben, nachdem sie »Die neuen Leiden des jungen W.« von Plenzdorf gelesen hatten. Jetzt verstand Ayfer den Satz. Ihre Hände zitterten, waren eiskalt. Das also hatte ihre Freundin Dasara gemeint, als sie gesagt hatte: »Liebe tut nicht nur megagut, sie tut auch megaweh. Und die Typen sind schuld daran.«
    Ich habe, dachte Ayfer und wusste gleichzeitig, dass das nicht stimmte, Fieber. Yeter stand mit unbewegtem Gesicht hinter der Theke, eine Frau aus Stein, nur in ihren blitzenden Augen war Leben zu erkennen, Leben und Missgunst und Verbitterung. Den Türban hatte sie abgelegt, wie immer, wenn sie mit den Restaurant- oder Hotelgästen direkt zu tun hatte. Ihr Onkel war ein noch größerer Heuchler als Yeter: Er trug die schalvar, die schwarzen Pluderhosen, das lange weiße Hemd und das gehäkelte Käppchen nur, wenn ihn seine Gäste nicht sehen konnten und er mit den anderen Männern des Dorfes auf den sedirs, den Matratzen, im Männercafé lag, Sisa rauchte, Wasserpfeife, und Domino spielte, die Gebetskette in der Hand. Vor seinen Hotelgästen ausEuropa gab er den toleranten, weltoffenen Türken, der zwar gläubig ist, sich aber nicht viel aus Religion macht. Hatte Ayfer ihn nicht öfter dabei beobachtet, wie er sich am Computer in seinem Büro durch Porno-Webseiten klickte oder wie er vor dem Schreibtisch auf seinem namazlik kniete, das letzte selam sprach, scharf nach links, dann nach rechts über die Schulter blickte, aufstand und den Gebetsteppich zusammenrollte? Ihr Onkel Burhan servierte sogar Schweinefleisch, »weil sie es lieben, die almanci, und weil sie gut dafür zahlen!«
    Ayfer wusste, dass ihr Onkel Bier nach Bier in sich hineinschütten

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