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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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konnte, trotzdem staunte sie, wie viel Alkohol die Gäste tranken. Ein Holländer, dem die Haare aus dem Kragen seines T-Shirts quollen, dicht wie ein Pelz, hatte vor dem Hauptgang acht Flaschen Tekel-Bier geleert, jetzt trank er Rotwein. Sie brachte eine zweite Flasche vom teuren Kavaklidere an den Tisch, an dem er saß; Yeter hatte den Korken am Tresen aus der Flasche gezogen, weil sie befürchtete, Ayfer könnte ihn abbrechen. Sie stellte die Flasche auf den Tisch, ohne auf den Blick des Holländers einzugehen, schenkte Wein nach und trug dann das Glas Weißwein an den Tisch des weißhaarigen Gastes, der wieder allein am Tisch neben der Treppe zu den Toiletten saß. Er hatte levrek pilakisi gegessen, den Eintopf aus Seebarsch, Kartoffeln und Zwiebeln, und als Vorspeise mucver, Zucchinipuffer, aber keinen Nachtisch. Jetzt las er in einem der Bücher, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Ayfer stellte den Weißwein neben das aufgeschlagene Buch, und er legte ein Lesezeichen hinein und klappte es zu.
    »Kennst du dich in Istanbul aus?«
    Sie schüttelte den Kopf, blieb aber vor dem Mann stehen.Sein Englisch reizte sie zum Lachen, weil sie sich vorstellte, was ihr Englischlehrer dazu gesagt hätte.
    »Warum?«
    »Weil ich morgen nach Istanbul abreise und ein paar Tipps brauchen könnte.«
    »Mit dem Auto?«
    Er nickte und deutete mit dem Kinn Richtung Bar. Yeter stand vor dem Tresen, die Hände in den Hüften aufgestützt, und sah sie vorwurfsvoll an. Ayfer blieb mit hängenden Armen stehen, das Serviertablett in der rechten Hand, weshalb es fast den Boden berührte; sie würde sich Zeit lassen, weil das die Tante ärgerte. Ihre Mutter legte sich immer gleich hin, wenn sie vom Putzen nach Hause kam, ohne sich um die Proteste ihres Mannes zu kümmern, der auf dem Sofa vor dem Fernseher hockte, Bier trank und in den türkischen Illustrierten blätterte, die ihm sein Bruder Burhan aus Sile in die Schweiz schickte. Mutter schlüpfte aus den Schuhen mit den Gummisohlen, die sie nur trug, wenn sie die Büroräume und Arztpraxen in Aarau putzte, hängte den Mantel an die Garderobe und legte sich im Schlafzimmer auf das gemachte Ehebett, ohne das Licht anzudrehen. Manchmal setzte sich Ayfer in der Dunkelheit neben ihre Mutter und streichelte ihr sanft den Rücken, ohne die Fernsehgeräusche und das Gemurmel des Vaters ausblenden zu können.
    »Woher kommen Sie?«, fragte sie.
    »Aus Irland«, sagte der Mann.
    »Ich komme aus der Schweiz«, sagte Ayfer, »und jetzt muss ich gehen.«
    Der weißhaarige Mann neigte leicht den Kopf, gütig und gelassen, als gebe er ihr seinen Schutz mit auf den Weg, undAyfer ging provozierend langsam zum Tresen hinüber. Yeter hatte die Arme um ihren Oberkörper gelegt, sie umarmte sich selbst, als friere sie. Ayfer hielt dem Blick ihrer Tante stand, trat an den Tresen, nahm das nächste Tablett mit Getränken entgegen, ließ sich von ihr erklären, an welche Tische der Raki, die drei Colas, das Efes-Bier und der Rotwein gehörten, und ging daran, sie zu servieren.
    Er friert, hatte Ayfer gedacht, als sie Davor das erste Mal sah, am Ende der Rolltreppe im Bahnhof Aarau, in einer Gruppe von Jugos, für die sie normalerweise keinen Blick übrig hatte. Er friert, dabei ist es fast dreißig Grad heiß, und ich möchte mich den ganzen Tag in ein Becken mit kühlem Wasser legen, das im Schatten einer Birke steht. Exakt das hatte sie damals gedacht, während sie, auf der Rolltreppe stehend, näher und näher auf ihn zugeglitten war, plötzlich panisch nach Luft ringend. Sie hatte sich oft vorgestellt, wie es sein würde, sich zu verlieben, hatte sich diesen Moment ausgemalt und sich vorgenommen, vorbereitet zu sein, wenn es endlich passierte. Wenn man es vorher wüsste, könnte man sich tatsächlich vorbereiten, hatte sie begriffen, als sie für einen Augenblick mit ihm auf gleicher Höhe gewesen war, aber man weiß es eben nicht vorher. Und so hatte sie die falschen Kleider angehabt, an jenem 20. Juni, den falschen Rock, das falsche Top, die falschen Schuhe. Die Haare hätte sie auch nicht hochgesteckt, wenn sie gewusst hätte, dass sie sich verlieben würde, die Augen hätte sie geschminkt und die Lippen, die Zehennägel lackiert. Ich sehe aus wie eine Missgeburt, hatte sie gedacht und sich dann trotzdem umgedreht, bevor sie durch die Glastür aus dem Bahnhof getreten war, vor dem Ajla bestimmt schon auf sie wartete, weil sie wiedereinmal zu spät war. Davor war einen Schritt aus der Gruppe

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