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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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hinausgetreten, hatte ihr direkt in die Augen geschaut und gelacht. Ich wette, er mag sein Lachen, hatte sie gedacht, es macht ihn älter, mir gefällt es auch. Seine Augen dagegen schüchterten sie ein, dunkel, verwegen, verletzlich und doch arrogant. Sie spürte ihr Herz in der Kehle schlagen wie sonst nur, wenn sie der Vater bei einer Lüge ertappte, und strich sich verlegen die Haarsträhne, die sich gelöst hatte, hinter das rechte Ohr. Eine Geste, die sie vor dem Spiegel geübt hatte und die ihr stand, wie sie fand. Und dann war er auf sie zugekommen, die rechte Hand in die Höhe haltend, als wehre er die blöden Kommentare seiner Clique ab. Er blieb genau im richtigen Abstand vor ihr stehen, als wisse er, dass sie Menschen nicht mochte, die ihr zu nahe kamen. Er roch nach Red Bull und Zigaretten und einem Parfum, das sie in der Nase kitzelte, weil es zu stark nach Zitrus duftete. Später hatte sie erfolglos versucht, sich an jedes Wort zu erinnern, das sie gesagt hatten. Sie hatte nur blödes Zeug geredet, kindisch und unsicher oder, wenn sie glaubte, er verliere das Interesse an ihr, zickig und schnippisch. Mit so einer wie mir, sagte sie sich, will einer wie er todsicher nichts zu tun haben. Seltsamerweise fiel es ihr leichter, sich an das zu erinnern, was sie gesagt hatte. Seine Sprüche und Scherze wollten ihr einfach nicht einfallen, nicht an einen ganzen Satz von ihm konnte sie sich erinnern, nur an das Wort, das er immer wieder gebraucht und das sie noch von keinem vorher gehört hatte: garschmal.
    Das zweite Mal hatten sie sich im Kunsthaus in Aarau gesehen, Ayfer langweilte sich mit ihrer Schulklasse auf einer Führung durch die Sammlung, von der sie ihm erzählt hatte,er stand in einem Saal im oberen Stock vor einem großen Bild, als interessiere er sich dafür. Als sie neben ihm stand, hatte er »hast du uns gesehen?«, geflüstert, während die Angestellte des Kunsthauses über ein anderes Gemälde redete, und dann auf ein Mädchen und einen Jungen gezeigt, die im Hintergrund des Bildes unter einem Torbogen in der Friedhofsmauer standen und dem Kinderbegräbnis aus der Ferne zusahen, »das sind wir, wir haben nichts mit den anderen zu tun, siehst du?« Er hatte ihre Hand gedrückt, dann war er schnell aus dem Saal gegangen.
    Am vierten Tag nach dieser zweiten Begegnung hatte er dort, wo der Weg zum Schulhaus in die Tramstraße mündete, auf sie gewartet. »Für dich«, hatte er gesagt und ihr ein Armband in die Hand gedrückt, ohne auf ihre Freundinnen Ajla und Dasara zu achten, »aus Kroatien, gegen den bösen Blick.« Sie hatte das Armband gleich umgelegt und ihm erzählt, dass sie die blauen Nazar-Perlen, aus denen die Kette gemacht war, aus der Türkei kannte. Ihre Großmutter hatte ihr vor Jahren ein Nazar-Amulett ans Kinderkleidchen genäht, um sie gegen den bösen Blick zu schützen. Davor hatte sie die Tramstraße hinaufbegleitet, war mit ihr in die Metzgergasse eingebogen, wo sich Ajla und Dasara verabschiedet hatten, und mit ihr auf der Brücke über die Suhre gegangen. Erst da war ihr der Verdacht gekommen, dass er ihre Adresse kannte. Auf dem Belchenweg, der parallel dem Flüsschen entlanglief und an dessen Ende der Mietblock stand, in dem sie wohnte, war er stehengeblieben, als wolle er eine unsichtbare Grenze nicht übertreten, hatte ihr einen schnellen Kuss auf die Wange gedrückt und war gegangen, ohne sich nach ihr umzudrehen oder sich mit ihr zu verabreden.
    »Du sollst nicht träumen, du sollst arbeiten!«
    Yeter packte sie so heftig am Arm, dass es schmerzte. Ihr Gesicht, diese Maske der Verbitterung, war kalt und unnahbar, ihre Stimme scharf. Sie schob ein Tablett mit einer Flasche Rotwein und vier Gläsern über den Tresen der Bar auf Ayfer zu.
    »Tisch elf. Die beiden jungen Paare aus Istanbul. Beeil dich!«
    Ein Gast, an dem sie vorbeiging, hatte eine Narbe mitten im Gesicht, die Hand, die vor ihm auf dem Tisch lag, sah aus wie die Hand eines Kindes. Ayfer verabscheute das Geräusch ihrer Sohlen auf dem Boden; ihr Spiegelbild, das die großen dunklen Scheiben zeigten, stimmte nicht. Sie wirkte kleiner und dicker, als sie war. Ich sehe aus wie eine Türkin, dachte sie und stellte die Gläser und den Wein auf den Tisch. Die Paare waren in ein Gespräch vertieft, und Ayfer musterte die Rose mit blutroten Blüten, die eine der jungen Frauen auf die Schulter tätowiert hatte, und bemerkte darum nicht gleich, dass einer der Männer versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie

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