Wald aus Glas: Roman (German Edition)
wohin soll die Reise gehen, wenn ich fragen darf?«
»Jetzt fragen Sie ja doch.«
»Sie müssen mir ja keine Antwort geben.«
»Nach Hause.«
»Kein schlechtes Ziel«, sagte der Mann und lächelte. »Rauchen Sie?«
Roberta schüttelte den Kopf. Für einen Augenblick waren die vier Spuren der Autobahn zu sehen, die Lastwagen, Personenwagen und Busse, die zwischen Zürich und Chur unterwegs waren. Über dem Seebecken hatte es aufgeklart, aber im Westen, über der Stadt, war der Himmel gewitterdunkel. Ich werde diesen See und die Stadt an seinem Ende nie mehr wiedersehen, dachte Roberta, und es ist mir gleichgültig.
»Warum fragen Sie mich eigentlich nicht, ob ich nicht ein bisschen alt bin für eine Reise mit einem Zelt?«
»Weil ich weiß, was sich gehört, darum«, sagte der Mann.
»Dann sind da hinten also nichts als Eier?«, fragte sie und deutete mit dem Daumen auf den Laderaum des Lieferwagens.
»360 Stück in jeder Schachtel.«
»Und wie viele Schachteln haben Sie da hinten?«
»Das würden Sie wohl gerne wissen, was?«
Der Mann zog eine Packung Zigaretten aus der Brusttasche seines Arbeitskittels, schüttelte eine heraus und steckte sie sich in den Mund, zündete sie aber nicht an. Roberta mochteEier nicht besonders. Sollte sie den Mann fragen, ob es ihm ähnlich erging?
»Sie fahren Eier aus«, stellte Roberta fest.
»Gibt Schlimmeres. Und Sie?«
»Ich war Sekretärin. In einer Schreinerei.«
»Und jetzt?«
»Jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich auf der Reise.«
Zwei Autofähren, die zwischen Horgen und Meilen hinund herfuhren, kreuzten sich in der Mitte des Sees. Eine Regenwolke trieb wie ein Segel über ihnen. Der Asphaltbelag der Brücke, auf der sie die Autobahn überquerten, war trocken, aber kurz darauf fing es wieder an zu regnen, und der Mann machte den Scheibenwischer an. Prinz folgte der Bewegung der Wischerblätter nicht nur mit den Augen, er drehte den Kopf nach links und nach rechts, bis er ein zustimmendes Brummen von sich gab und sich hinlegte.
»Meiner lebt nicht mehr«, sagte der Mann, räusperte sich, klappte die Sonnenblende nach unten, zog ein Foto unter dem Gummiband hervor, das darum lief, und reichte es Roberta.
»Musste ihn einschläfern lassen.«
Auf dem Bild kauerte der Mann neben einem Terrier. Der Hund hatte einen Ast in der Schnauze und blickte in die Kamera; der Mann sah den Hund an und wollte ihn wohl eben streicheln, seine Hand schwebte jedenfalls in der Luft, verschwommen und blass, als sei sie nachträglich in das Bild hineinkopiert worden. Nur die Tätowierung auf dem ausgestreckten Arm war seltsamerweise gestochen scharf, zwei verflochtene Herzen, in denen ein Dolch steckte.
»Wie alt ist er geworden?«
»Vierzehn. Ich hab den Scheißer geliebt.«
»Und wann ist er gestorben?«
»Vor elf Monaten und vier Tagen«, sagte der Mann, nahm ihr das Bild aus der Hand und steckte es zurück unter die Blende.
»Aber er ist nicht gestorben. Ich hab ihn umgebracht.«
»Er war doch bestimmt krank.«
»Noch schlimmer: Ich hab ihn umbringen lassen.«
»Wenn der hier krank wird, lass ich ihn auch einschläfern«, sagte Roberta und legte Prinz die Hand auf den Kopf. »Ich will nicht, dass er leidet.«
»Das hilft mir auch nicht weiter. Aber lassen Sie’s gut sein. Soll ich Sie zum Bahnhof fahren? Oder wollen Sie zu Fuß nach Hause?«
Roberta stimmte in das Lachen des Mannes ein und nickte. Erst jetzt sah sie den Rosenkranz, der am Rückspiegel baumelte.
»Hab ich immer geliebt«, sagte der Mann, wendete seinen Lieferwagen vor dem Bahnhofsgebäude und hielt an, »Schulreisen.«
Er zeigte auf eine Gruppe Kinder mit Rucksäcken, die unter dem Vordach des Bahnhofes um eine Frau herumstand.
»Ich nicht«, sagte Roberta und stieß die Tür auf, »ich bin nie gern gereist.«
»Schlecht für eine, die unterwegs ist.«
»Früher. Ich bin früher nicht gern gereist. Mal sehen, ob es mir heute besser gefällt.«
Sie klopfte Prinz auf die Flanke, er gähnte, erhob sich und sprang über ihre Beine hinweg auf die Straße hinaus. Auf der Wiese hinter den Gleisen grasten Kühe, ohne sich um den Regen zu kümmern.
»Ich mag Eier nicht besonders«, sagte Roberta, »und Sie?«
»Früher hab ich Eier geliebt.«
»Und heute?«
»Heute hasse ich sie. Wohin geht denn nun die Reise?«
»Nach Rapperswil. Mein Sohn lebt dort. Richard.«
»Und dafür braucht man ein Zelt?«
»Dafür nicht, nein«, sagte Roberta, reichte dem Mann die Hand und stieg ebenfalls aus.
»Viel
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