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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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abgesenkt zu haben schien. Der Verkehr war noch dichter geworden, immer wieder wurden sie vonLastwagen und Sattelschleppern überholt, die sich so dicht an ihnen vorbeischoben, dass Ayfer sie hätte berühren können. Dreck und Abfall säumten die Fahrbahn, zerfetzte Plastiktüten schwebten über den vorbeirasenden Autos dahin, wurden in die Tiefe gezogen und stiegen gleich darauf wieder in die Höhe. Auf Balkonen flatterte Wäsche, zwischen Wohnblocks zappelte ein Papierdrachen. Darüber zogen Vögel über den Himmel, ein Schwarm, der sich immer wieder neu formierte, Schwalben, die zwischen Dächern verschwanden, Scheren, die auf- und zuklappten und an einer ganz anderen Stelle wieder auftauchten.
    »Istanbul«, sagte Ayfer unsicher.
    »New York ist es nicht«, sagte die Frau bitter.
    »Leider«, fügte ihr Mann hinzu, »uns wird es hier nämlich zu eng.«
    »Mir auch«, sagte Ayfer leise.
    »Haben wir uns fast gedacht«, sagte die Frau.
    »Allah akbar«, sagte er spöttisch und drückte kurz die Augen zu.
    Die Frau drehte sich nach Ayfer um und sah sie offen an. Sie war viel jünger, als Ayfer vermutet hatte, jünger als der Mann.
    »Bist du auf dem Weg in die Schweiz?«
    Ayfer dachte daran, die Frau zu belügen, dann sah sie ihr in die Augen und nickte, ohne den Blick abzuwenden.
    »Ich bin abgehauen«, sagte sie.
    »Vor wem?«
    Die Stimme des Mannes war ruhig, fast gleichgültig, aber Ayfer sah im Rückspiegel, dass sein Blick misstrauisch war, wachsam.
    »Vor meinem Onkel.«
    »Warum?«
    »Weil er mich für einen anderen Menschen hält als der, der ich bin.«
    »Hört, hört«, sagte der Mann ohne Spott, »eine Philosophin. Und das in deinem Alter! Und wo lebt dein Onkel?«
    »In Sile. Er hat dort ein Hotel.«
    »Und deine Eltern?«, fragte er.
    »Sind in der Schweiz. Schon lange.«
    »Pass auf dich auf, ja?«, sagte die Frau, legte ihr die Hand auf den Unterarm und drückte ihn.
    Ayfer nickte, und die Frau zog ihre Hand zurück. Das Baby lehnte sich aus seinem Sitz und deutete schmatzend aus dem Fenster. An der Autobahn waren Hunderte von Obststeigen zu schwankenden Türmen aufeinandergeschichtet, Tausende.
    »Können Sie mich bitte da vorn rauslassen?«
    Ayfer deutete auf das Schild, das eine Raststätte anzeigte, und sah, wie der Mann nickte, ohne etwas zu sagen. Sie hielten hinter dem Gebäude der Raststätte, am Rand eines riesigen Parkplatzes, auf dem Lastwagen neben Lastwagen geparkt war.
    »Basin sag olsun«, sagte die Frau und reichte ihr die Hand.
    Das hatte ihre Großmutter Nuray bei jedem Abschied zu ihr gesagt, basin sag olsun, möge es dir gut gehen!
    Das Baby hatte die Augen jetzt geöffnet und starrte Ayfer mit reglosem Gesichtsausdruck an, dabei öffnete und schloss es seine Fäustchen mit den kurzen dicken Fingern, die Ayfer gern berührt hätte.
    »Das wünsche ich Ihnen auch«, sagte Ayfer und stieg aus.Der Boden der Toilette war mit so vielen Kippen und flachgetretenen Kaugummis übersät, dass Ayfer im ersten Moment glaubte, es sei das Muster der Fliesen. Es roch nach billiger Handseife, Zigaretten und Zahnpasta, weil sich eine junge Frau in ihrem Alter an einem der Waschbecken im BH die Zähne putzte. Sie trug Cargohosen mit ausgebeulten Taschen und schwere Stiefel, hatte sich die hennaroten Haare hochgesteckt und das T-Shirt wie ein Handtuch um die Schulter gelegt. Als Ayfer hinter ihr vorbeiging, sahen sie sich im Spiegel an.
    »Selamün aleyküm«, sagte das Mädchen mit starkem Akzent.
    »Du mich auch«, antwortete Ayfer leise.
    Ayfer glaubte an die Magie des ersten Blicks, sie war überzeugt, dass man sich innerhalb von Sekundenbruchteilen entschied, ob man einen Menschen mochte oder nicht, und dass man sofort wusste, man passt zueinander oder eben nicht. Die junge Frau gefiel ihr, und sie gefiel der jungen Frau, das spürte Ayfer. Die Frau nickte grinsend, beugte sich über das Waschbecken und spuckte aus.
    Ayfer schloss sich in die hinterste Kabine ein und setzte sich auf den heruntergeklappten Toilettenring. Jemand hatte mit Kugelschreiber »Fuck to forget, but don’t forget to fuck« an die Tür geschrieben. Darunter stand eine durchgestrichene Telefonnummer. Sie hielt erste Sätze, die Leute zu ihr gesagt hatten, die in ihrem Leben eine Rolle spielten, für so wichtig, dass sie sich für immer und ewig an sie erinnern würde. »Mattmann ist ein Arsch«, hatte Ajla zu ihr nach der ersten Mathestunde in der neuen Klasse auf dem Pausenplatz gesagt; Dasaras erster Satz an sie hatte

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