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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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kannte, zart, hingehaucht, eine Vermutung und keine Behauptung. Höher und weiter war er sowieso, aber das half auch nicht, das Land war ihr trotzdem ein Gefängnis, der falsche Ort.
    Sie hörte das Auto erst, als es fast auf ihrer Höhe war. Es fuhr langsam an ihr vorbei, nach kurzem Zögern leuchteten die Bremslichter auf, und es hielt etwa zehn Meter vor ihr an. Der Wagen war grün, nicht silbern wie Burhans V W. Ayfer erkannte einen Mann am Steuer, jünger als ihr Onkel, daneben eine Frau ohne Kopftuch und auf der Rückbank ein Kleinkind in einem Kindersitz. Sie kannte den Song, der im Auto lief, Superman von Hadise, sie hatte ihn auf ihrem iPod. Sie blieb neben der Fahrertür stehen und beugte sich zu dem Mann hinunter, der eben die Musik leiser drehte und sich ihr dann zuwandte.
    »Wohin willst du?«, fragte er.
    »Wohin fahren Sie denn?«, gab Ayfer lächelnd zurück.
    »Nach Anadolu«, sagte die Frau vom Beifahrersitz.
    Ihr rechtes Auge war zugeschwollen, und sie bewegte sich, als habe sie einen steifen Nacken.
    »Perfekt«, sagte Ayfer. »Darf ich mitfahren?«
    Sie hatte den Ortsnamen Anadolu noch nie gehört. Dort angekommen, würde sie weitersehen. Der Wagen – das fiel ihr erst jetzt auf – hatte die gleiche Farbe wie ihr Kanarienvogel, der vor zwei Jahren gestorben war und den sie und Dasara im Garten bestattet hatten.
    »Steig ein«, sagte der Mann.
    Ayfer öffnete die Tür hinter dem Fahrersitz, ließ sich auf die Rückbank gleiten und zog die Tür zu. Der Mann fuhr langsam und vorsichtig, und es kam Ayfer vor, als wolle er die Landschaft nicht stören. Das Kind, das neben ihr saß, trug einen Strampelanzug und hatte ein Mützchen auf, es sabberte und roch nach Milch und gekochten Mohrrüben. Ayfer sah das Kind an und schnitt eine Grimasse, hörte aber sofort damit auf, weil das Kind das Gesicht verzog, als würde es gleich losheulen. Sie ließ sich vorsichtig zurücksinken und sah aus dem Fenster in die von der Sonne versengte Landschaft hinaus. Vielleicht hatte sie einen Fehler gemacht, vielleicht fuhr der Mann mit seiner Familie in die Richtung, aus der sie gekommen war, und sie bewegte sich auf ihren Onkel und ihre Tante zu, statt sich von ihnen zu entfernen. Und was sollte sie antworten, falls sie gefragt wurde, was sie in Anadolu wolle und warum sie zu Fuß allein auf einer Landstraße unterwegs war? Aber weder der Mann noch die Frau schienen daran interessiert zu sein, sich mit ihr zu unterhalten. Das Kind hatte die Augen geschlossen und brummelte leise vor sich hin, ohne Ayfer zu beachten. Nach ein paar Minuten bog der Mann auf einen Autobahnzubringer und fädelte sich in den dichten Verkehrsfluss ein. Ayfer blickte aus dem Fenster, um einen Hinweis zu finden, in welche Richtung sie fuhren. Sie befanden sich bestimmt auf der gleichen Autobahn, auf der sie auch mit dem Bus gefahren war, aber hoffentlich waren sie in die andere Richtung unterwegs.
    »Ich hatte einen kleinen Unfall«, sagte die Frau plötzlich.
    »Mit dem Auto?«, fragte Ayfer.
    »In der Fabrik«, sagte der Mann und drehte die Musik lauter, wobei er sie im Rückspiegel prüfend ansah.
    Ayfer nickte und sah aus dem Seitenfenster. Auf einer Industriebrache standen Gerippe von Lagerhallen, zerfallene Schuppen und Dutzende von ausgeweideten Autowracks. Ayfer kannte den Song, der im Radio lief, Kayip von Tarkan war eines von Dasaras Lieblingsliedern.
    »Du kommst aber nicht aus der Türkei«, sagte der Mann.
    »Was?«, antwortete Ayfer vage.
    »Deine Aussprache. Deutschland?«
    »Schweiz.«
    »In der Türkei reisen Frauen nicht yanliz kadin«, sagte er.
    »Nicht ohne männliche Begleitung, ich weiß.«
    »Aber du machst es trotzdem«, sagte die Frau und warf ihr einen Blick zu, ohne sich nach ihr umzudrehen.
    »Ich bin ja keine Frau«, sagte Ayfer.
    »Sondern?«, fragte er.
    Er klopfte mit der flachen Hand aufs Steuerrad, wie es ihr Vater machte, bevor er wütend wurde, aber Ayfer sah, dass er lachte und sich amüsierte.
    »Ein Mädchen, Serhad, sie ist ein Mädchen!«
    »Ich frage dich jetzt nicht, was du hier verloren hast, allein«, sagte er und sah sie wieder im Rückspiegel an.
    »Ich auch nicht«, sagte die Frau grinsend.
    »Danke«, sagte Ayfer.
    »Bitte«, sagte die Frau.
    Die Autobahn führte nicht länger durch offene Landschaft, die Häuser rückten näher an die Fahrbahn heran, wurden höher und standen dichter, sie fuhren durch den Vorort einer großen Stadt. Am Horizont wuchsen Hochhäuser in den Himmel, der sich

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