Wald aus Glas: Roman (German Edition)
in den See geschobenen Landzunge, ihr Biwakzelt stand fünf Meter vom Wasser entfernt. Die Wiese für die Zelte vor dem langgestreckten Flachdachbau mit Toiletten, Duschen, Aufenthaltsraum und Kiosk war fast leer, die Dauerplätze für Wohnwagen auf der anderen Seite des Geländes dagegen waren voll belegt, genau wie die Stellplätze für Campingbusse, die an den Uferweg grenzten.
Sie nahm sich vor, ruhig liegen zu bleiben, bis Prinz erwachte, wurde aber schon nach wenigen Minuten unruhig und fing an, ihm den Rücken zu streicheln, bis er den Kopf hob, gähnte und sie ansah. Sie lagen noch eine Weile nebeneinander im Zelt, und Roberta bekam den Eindruck, auch ihr Hund betrachte die Wälder am anderen Ufer, deren Herbstfarben in der Dämmerung ineinanderflossen wie auf einem Aquarell. Die Felswände der Churfirsten schienen näher ans Wasser gerückt als bei ihrer Ankunft und wirkten bedrohlich.
Sie stand auf, nahm Prinz an die Leine und ging zu den Toiletten hinüber. Das Zelt ließ sie offen. Der Eiermann hatte sie bis zum Campingplatz fahren wollen, aber sie hatte darauf bestanden, die kurze Strecke vom Restaurant im Dorfkern, das er mit Eiern belieferte, bis zum See hinunter zu Fuß zu gehen. Er hatte sich neben Prinz gekauert, leise mit ihm geredet und ihn zum Abschied gestreichelt, erst dann hatte er ihr die Hand gereicht. Sie kannte nicht einmal seinen Namen.
Roberta band Prinz an das Geländer der Veranda, die über die ganze Länge des Gebäudes verlief, und betrat den Waschraum. Ein blondes Mädchen in Trainingsanzug und Flip-Flops stand vor dem Waschbecken und putzte sich die Zähne. Das Mädchen nahm die Zahnbürste aus dem Mund, murmelte einen Gruß und rückte zur Seite. Roberta ließ Wasser in die hohlen Hände laufen und wusch sich das Gesicht. Ihrem Spiegelbild im grellen Licht der Lampen wich sie aus. Das Mädchen roch nach Pfirsichshampoo, es hatte sich goldene Wollfäden in die Haare geflochten und die Zehennägel in verschiedenen Farben bemalt.
»Sind Sie die mit dem Hund?«, fragte das Mädchen, nachdem es ausgespuckt und die Zahnbürste ausgespült hatte.
Roberta blickte das Mädchen erstaunt an. Wann hatte sie sich das letzte Mal mit einem Kind unterhalten? Was sagte man zu einem Mädchen, das vielleicht acht, neun Jahre alt war?
»Wie alt bist du?«, sagte sie und schämte sich sofort für die Frage, die sie als Kind gehasst hatte.
»Elf«, sagte das Mädchen spitz, »und du?«
»Zweiundsiebzig.«
»Das ist ganz schön alt!«
Roberta nickte. Was gab es dazu zu sagen? Das Kind stammte eindeutig aus Österreich; trotz der über fünfzig Jahre, die Roberta jetzt schon nicht mehr dort lebte, genügte es, zwei, drei Worte zu hören, um das sofort zu erkennen.
»Hast du keinen Mann?«
Roberta schüttelte den Kopf. Das Mädchen hatte wache Augen, die sie musterten, als werde sie einer Prüfung unterzogen.
»Aber der Hund gehört zu dir?«
»Ja.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Draußen. Komm.«
Roberta stieß die Tür auf und wollte aus dem Waschraum treten, aber das Mädchen drängte sich an ihr vorbei, kniete sich neben Prinz auf den Boden und drückte sein Gesicht in sein Fell, als kenne sie ihn schon seit Jahren und vertraue ihm.
»Wie heißt er?«
Roberta nannte den Namen und erzählte dem Mädchen, wie sie den zweijährigen Prinz in einem Tierheim gefunden und mit nach Hause genommen hatte und dass sie ihn um nichts in der Welt hergeben würde.
»Wenn du ihn mitbringst, darfst du bei uns essen«, sagte das Mädchen und stand auf, ohne Prinz loszulassen.
»Und deine Eltern?«
»Was soll mit denen sein? Wir sind ganz da hinten, im blauen Bus mit der Sonne drauf und den Sternen. Kommt ihr?«
Das Mädchen nahm Prinz’ Kopf in beide Hände, drückte ihn, stand auf und deutete mit dem Kinn in Richtung Kiosk. Eine Frau, die sich ein Tuch in die Haare geschlungen hatte, das ihr als schillernder Turban auf dem Kopf saß, kam auf sie zu.
»Jungs sind blöd«, sagte das Mädchen schnell, »hast du darum keinen Mann?«
Die Frau blieb vor ihnen stehen. Ihre Armreife, bestimmt sieben oder acht davon, klingelten, als sie das Mädchen an sich zog.
»Emma, hast du wieder jemand gefunden, den du nerven kannst?«, sagte die Frau und lachte.
Ihre Zähne waren schlecht, ihre Lippen stark geschminkt. Sie trug ein wadenlanges Batikkleid, eine Wollweste und war barfuß.
»Gar nicht«, sagte Roberta, »wir haben über Hunde geredet.«
»Sie sind auch aus Österreich!«
Die Frau klatschte
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