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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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begeistert in die Hände wie ein Teenager, dabei war sie bestimmt Mitte vierzig. Roberta war gar nicht aufgefallen, dass sie in den Dialekt ihrer Kindheit zurückgefallen war, wie immer, wenn sie sich mit ehemaligen Landsleuten unterhielt.
    »Aber nicht aus Wien wie Sie«, sagte Roberta und legte derFrau sofort die Hand auf den Arm, weil sie merkte, dass man ihre Feststellung falsch verstehen konnte.
    »Wir sind auch nicht aus Wien, wir wohnen nur dort.«
    »Sie ist ganz allein, drum isst sie heute bei uns«, sagte das Mädchen und fing an, auf und ab zu hüpfen und dabei »bittebittebitte« zu rufen.
    Roberta und die Mutter des Mädchens warfen sich einen Blick zu, und Prinz sprang auf die Beine und fing an, wild bellend um sie herumzulaufen, als wolle er die Magie des Momentes vor bösen Geistern schützen.

12
    Bereit zum Flug, am Rand der Klippe auf dem Wiesenhöcker, Wind im Gesicht, mit geblähtem Kleid, bereit zum Sturz in die Bucht, in der das Meer wogt, dies finstere Tuch, darauf Fischerboote, Schiffe aus Holz, Schiffe aus Stahl, die mit ihren Suchscheinwerfern die Nacht bis weit in den Himmel hinauf durchschneiden, ihren Sprung zu verfolgen und sie zu blenden.
    Ayfer öffnete die Augen, schloss sie aber gleich wieder, geblendet vom Lichtstrahl einer Taschenlampe, der zu ihnen hinauffingerte und über sie hinwegstrich wie eine kühle Hand. Sie lag hinter Annika auf dem oberen Bett im Fahrerhaus des Lastzuges, die Decke zu den Füßen hinabgestrampelt. Sie waren kurz vor Mitternacht losgefahren, jetzt war es 3 Uhr 50, wie sie auf der Digitaluhr am Armaturenbrett ablas.Kavakli war das letzte Ortsschild gewesen, das sie noch bewusst gelesen hatte, dann war sie eingedöst, Annikas Arm über der Brust, ihren warmen Atem im schweißnassen Nacken.
    Sie hörte das Klicken, mit dem die Taschenlampe ausging, stützte sich schläfrig auf einen Arm auf und schaute nach unten. Annikas Vater unterhielt sich durch das offene Fahrerfenster mit einem Mann in Uniform, der eine Brille trug und meckernd lachte. Ayfer konnte nicht erkennen, wo sie sich befanden; die Welt vor dem Lastzug war in schneeweißes Licht getaucht und ausgelöscht. Der Uniformierte schien vor einem hellen Nichts zu schweben, ein Wesen aus einer anderen Welt. Annikas Atem beschleunigte sich, Ayfer sah sich sekundenkurz auf der geträumten Klippe stehen, weiches Gras unter den nackten Füßen, die Arme zu Schwingen ausgebreitet, zitternd vor Ungeduld, weil sie es nicht erwarten konnte, dass Wind in ihre Knochen griff und zu Federn machte, da öffnete Annika die Augen, blinzelte, sah sie schlafblind an und dämmerte erneut weg.
    »Schlaf«, flüsterte Ayfer, »schlaf.«
    Warum hatte sie sich nicht umgedreht in ihrem Traum, um zu sehen, in welcher Landschaft sie stand, bereit zum Flug? Dreh dich um, los, dreh dich um, dann drehte sie sich um, schlafwandlerisch sicher, eben war es doch noch Nacht gewesen, staunte ob der Hügelreihen, die in Feuerfarben wie Wellen gegen den Horizont anbrandeten, zögerte, hielt den Atem an und spürte ein Schüttern im Graspolster unter ihren Füßen, spürte den gewaltigen Motor unter sich, Gang nach Gang hoch geschaltet. Sie fuhren, fuhren. Ayfer zwang sich, die Augen zu öffnen. Annikas Vater saß entspannt hinter demSteuer, den Kopf leicht nach vorn geneigt, die Teetasse in der Halterung über dem Schalthebel, die Wollmütze aus der Stirn geschoben. Annika hatte ihr erklärt, er fahre nie ohne diese Mütze, keinen Meter, dafür nehme er sie ab, sobald er aus dem Fahrerhaus klettere. Er hatte das Radio eingeschaltet, aber so leise, dass es war, als bilde sie sich die Musik ein. Auch der CB-Funk war in Betrieb, wenn sie sich konzentrierte, hörte sie ein Knistern. Bisher hatte Ayfer nicht mitbekommen, dass er sich an den Funkgesprächen beteiligte. Sie stieg so leise wie möglich über die schlafende Annika hinweg, kletterte aus der oberen Schlafkoje und ließ sich in den Beifahrersessel gleiten. Annikas Vater warf ihr einen Blick zu, nickte und wandte sich dann wieder der Autobahn zu, die unter ihnen wegraste. Sie fuhren durch eine Landschaft, die in der Dämmerung zu einem undurchdringlichen Raum verschmolz, ein Raum, der in Hügelreihen oder Berge überging, hinter denen die Ahnung des ersten Tageslichts aufschien. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte 4 Uhr 13.
    »Wo sind wir?«
    Ihre Stimme klang fremd, als spreche eine andere aus ihr, und sie hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.
    »Ein Stück hinter der

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