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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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griechischen Grenze.«
    »Sind Sie nicht müde?«
    Annikas Vater schnalzte mit der Zunge und ließ das Steuerrad los, als sei das eine Antwort. Dann erzählte er ihr, er fahre wie immer bei dieser Fracht bis zu einer bestimmten Raststätte kurz vor Plovdiv in Bulgarien, dort schlafe er fünf Stunden und fahre weiter. Danach saßen sie schweigend nebeneinander und sahen zu, wie der Himmel unmerklich hellerwurde, ohne dass sich Dörfer, Bäume oder Wälder aus dem undurchdringlichen Raum links und rechts der Fahrbahnen herauslösten. Einmal wurden sie von einem Sattelschlepper überholt, der mit Wassermelonen beladen war, dunkelgrünen Früchten mit hellen Streifen, groß wie die Medizinbälle im Turnen, die sie gehasst hatte. Sonst war der Verkehr spärlich, Lastzüge und Sattelschlepper, ab und zu Personenwagen. Es war bereits hell, als sie von einem Motorrad überholt wurden, das Annika im Schlaf störte, sie warf sich jedenfalls hin und her, murmelnd, eine Faust in der Luft.
    Bald darauf legte sich auch Ayfer wieder hin. Annikas Vater nickte wortlos, die Teetasse in der Hand, ohne den Blick von der Fahrbahn zu lösen.
    Sie erwachte und begriff sofort, sie standen still, und sie lag allein in der Koje. Sonnenlicht füllte das Fahrerhaus, es roch nach frisch gebrühtem Kaffee. Annika und ihr Vater saßen vor dem Laster auf ihren Klappstühlen an einem leeren Klapptisch, dampfende Tassen in den Händen. Ayfer blieb regungslos liegen, als störe schon die kleinste Bewegung die Eintracht zwischen Vater und Tochter. Der Asphalt, auf dem Annika und ihr Vater saßen, war aufgebrochen wie trockene, spröde Erde, aus den Sprüngen stießen Grasbüschel. Tiefes Klagen erfüllte die Luft, das Ayfer nicht sofort als Horn eines Lastzuges erkannte.
    Sie starrte Annika an, ohne mit der Wimper zu zucken, überzeugt davon, dass die früher oder später diese Aufmerksamkeit spürte und sie ebenfalls ansah. Es dauerte keine Minute, bis Annika wirklich den Kopf hob und sie anschaute. Ayfer erwiderte den Blick mit einem leichten Nicken, auf dasAnnika reagierte, indem sie die linke Hand an die Stirn legte, was Ayfer ihr sofort nachtat. Sie spielten das Spiel, in dem jeder Schritt, den man unternimmt, abhängig ist vom vorangegangenen Schritt der anderen. Erst eine Handlung ermöglichte eine Reaktion, die wiederum eine Reaktion auslöste. Schließlich drückte Annika als Zeichen, dass ihr Spiel in eine neue Phase trat, die Augen zu. Dann stand sie auf, legte ihrem Vater die Hand auf die Schulter und verschwand aus Ayfers Blickfeld. Gleich darauf stieg Annika ins Fahrerhaus und kletterte zu ihr in die obere Koje. Die Digitaluhr im Armaturenbrett zeigte 7 Uhr 30.
    »Wo sind wir?«
    »In der Nähe von Plovdiv. Du hast im Schlaf gelacht. Über mich?«
    »Spinnst du? Über mich!«
    Wie schmal Annikas Schulterblätter waren, wie blass, spitze Papierflügelchen. Die Träger ihres Kleides liefen um ihren Nacken, sie hatte eine kurze Narbe über dem Knie und einen Kranz Mückenstiche am rechten Knöchel.
    »Ganz schöne Hitze da draußen«, sagte Annika grinsend.
    »Ich war noch nie in Bulgarien.«
    »Hattest du schon einmal einen Traum, der fünf Jahre gedauert hat?«
    »Obwohl ich nur ein paar Stunden geschlafen habe?«
    »Genau! Hast du schon mal geträumt, dass du Jahrzehnte in einem Keller gefangen warst?«
    »Einer meiner Träume hat ein ganzes Leben gedauert«, sagte Ayfer.
    »Dabei sind Träume ganz kurz«, sagte Annika, »das weiß jeder.«
    »Traumzeit ist nicht dasselbe wie Echtzeit.«
    »Und das wissen wir auch im Schlaf?«
    Ayfer nickte. Annikas Vater hatte seine Tasse auf den Tisch gestellt; es sah aus, als sei er eingenickt. Annika leckte sich die Lippen und schloss so langsam die Augen, als wolle sie ein Bild auslöschen.
    »Ich will dir was zeigen«, sagte sie, »mein Haus. Ich will dir mein Haus zeigen.«
    Sie blieben nebeneinander liegen, ohne sich zu bewegen, ohne sich zu berühren. Das Dach der Fahrerkabine knackte, irgendwo in der Nähe wurden in kurzer Folge vier Autotüren zugeknallt. Annikas Vater hob den Kopf, ließ ihn aber gleich wieder sinken. Plötzlich glaubte Ayfer, ein Spannungsfeld zwischen ihrem und Annikas Körper zu fühlen, eine flirrende Energie, die die Härchen auf ihren Beinen aufrichtete und dafür sorgte, dass sie einen kehligen Seufzer ausstieß, gegen den sie sich nicht wehren konnte.
    »Geht mir genauso«, sagte Annika und legte ihr die Hand auf die Stirn.
    Das Licht fiel in breiten Strichen über die

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