Wald aus Glas: Roman (German Edition)
ihm einen missbilligenden Blick zu, sagte aber nichts und nahm eine Blechdose aus der Tasche ihrer Wollweste und machte sie auf. In der Dose lagen drei selbstgedrehte Zigaretten.
»Stört es Sie?«, sagte die Frau, nahm eine der Zigaretten heraus, schob sie Gerhard zwischen die Lippen und zündete sie an.
Roberta schüttelte den Kopf. Sie hatte in den sechziger Jahren geraucht, aber damit aufgehört, als sie im Januar 1965 schwanger geworden war. Prinz winselte im Schlaf, sein Schwanz strich über den Fußboden und schlug gegen ihr Stuhlbein.
»Meine Eltern rauchen Drogen«, sagte Emma ernst, denZeigefinger an die Lippen gelegt, als mache sie sich über die Hüter einer Moral lustig, die sie noch gar nicht verstand.
»Marihuana«, sagte die Frau und nahm die Zigarette von ihrem Mann entgegen, der den Kopf in den Nacken legte und Rauch gegen die Decke blies, wobei er leise summte.
»Gut gegen Schmerzen«, sagte er.
»Ich habe keine Schmerzen«, sagte Roberta.
»Jeder hat Schmerzen«, sagte er sanft, »ich zum Beispiel habe Gallensteine. Ohne das hier würde ich durchdrehen.«
Seine Frau zog mit geschlossenen Augen so stark an der Zigarette, dass das Papier knisterte und die Glut rot aufleuchtete. Als sie den Rauch nach einer geraumen Weile ausstieß, öffnete sie die Augen und blickte Roberta in die Augen.
»Haben Sie auch schon mal?«, fragte sie und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
Rauch strömte aus ihrem Mund, während sie sprach. Roberta schüttelte den Kopf. Sie hatte den Geruch von Marihuana immer geliebt, lange ohne zu wissen, was es war. Ihr Sohn Richard hatte mit vierzehn angefangen, Marihuana zu rauchen; naiv, wie sie war, hatte sie gedacht, der Geruch, den sie so mochte, stamme von den Räucherstäbchen, die er in seinem Zimmer abbrannte.
»Wollen Sie?«, fragte Gerhard, der einen tiefen Zug genommen hatte, und hielt ihr die Zigarette hin.
»Ich weiß nicht«, sagte Roberta.
»Schadet ganz bestimmt nicht«, sagte die Frau.
»Das sagen sie immer«, sagte Emma schnippisch und kniete sich neben Prinz nieder und nahm seine rechte Vorderpfote in die Hand, als wolle sie sie wärmen.
»Kommen Sie«, sagte Gerhard freundlich, »better late than never!«
»Ich spreche kein Englisch!«
»Ich auch nicht«, sagte er, »da, tief ziehen und den Rauch so lange wie möglich in der Lunge behalten.«
»Wir passen auf Sie auf, keine Sorge«, sagte die Frau und legte ihr die Hand auf den Arm.
Roberta nahm das Zigarettchen zwischen Mittel- und Zeigefinger und tat einen tiefen Zug. Der Rauch kratzte in ihrer Luftröhre; als sie ausatmete, musste sie husten.
»Nicht schlecht, Frau Specht«, sagte Gerhard grinsend, »versuchen Sie, den Rauch etwas länger in der Lunge zu behalten. Los!«
Roberta nahm einen weiteren Zug und behielt den Rauch so lange in der Lunge, bis sie spürte, wie eine Hitzewelle durch ihren Körper lief. Sie stieß den Rauch durch die Nase aus, weil sie hoffte, der würzige Duft bleibe dann in ihr wie in einem gläsernen Gefäß. Sie kam sich vor wie im Frachtraum eines gesunkenen Schiffes, matt, müde. Was sie wahrnahm, schien leicht verschoben, als schwebe es wenige Millimeter neben sich, war damit seltsamerweise aber klarer und deutlicher. Sie saßen am Tisch, reichten die Zigarette behutsam weiter, eine kostbare Gabe, sinnlos grinsend, sorgsam atmend, schweigend. Das Kind hockte am Boden und streichelte den Hund. Die Glut leuchtete auf, erlosch und leuchtete wieder auf. Rauch stand über dem Tisch, ein Geruch, der sich berühren, der sich sehen ließ. Die Welt war nicht mehr genau so, wie sie zuvor gewesen war, erstaunlicherweise lag in dieser Erkenntnis nichts Beunruhigendes, sondern etwas Versöhnliches. Sie kam sich vor, als erlebe sie etwas, das sich bereitsereignet hatte, konnte zusehen, wie ein Moment verstrich, die Zeit verging, eine Seite umgeblättert wurde. Bis eben hatte sie nicht gemerkt, dass sie die ganze Zeit von einer unsichtbaren Zwillingsschwester begleitet worden war, einer Doppelgängerin, launisch, quengelig und pflichtbewusst, einer Frau, die sich ihrer selbst schämte. Jetzt, da sie diesen unsichtbaren Zwilling losgeworden war, merkte sie es. Ich bin mit mir selbst versöhnt, dachte Roberta erstaunt, warum ist mir denn nicht aufgefallen, dass ich das zuvor nicht gewesen bin?
»Ich bin aus dem Altenheim ausgebrochen«, sagte sie irgendwann.
»Ausgebrochen!« Gerhard lachte. »Aus dem Gefängnis bricht man aus oder aus der Irrenanstalt. Aus einem Altenheim
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