Wald aus Glas: Roman (German Edition)
dem Mädchen über die Wange.
Er hatte sich als Gerhard vorgestellt, aber seine Frau nannte ihn Teardrop. Er trug die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden, die Koteletten, die ihm fast bis zu den Mundwinkeln reichten, sollten bestimmt die Aknenarben verbergen, die beide Wangen bedeckten. Den bürgerlichen Namen der Frau erfuhr Roberta nicht. »Ich heiße Snowflake«, hatte sie sich vorgestellt, »weil ich Schnee nicht ausstehen kann.« Sie saßen an einem Tisch neben dem Kochherd und der Spüle im vorderen Teil des Busses, der Schlafbereich war mit Tüchern verhängt. Es roch nach Koriander,mit dem die Frau den Salat und den Gemüseeintopf gewürzt hatte, und nach Patchuli, das Roberta von der Frau des Autohändlers kannte, für den sie in den sechziger Jahren in Luzern die Büroarbeiten erledigt hatte. Überall brannten Kerzen und Teelichter, die Wände und die gewölbte Decke des Busses, von der Treibholz und Muscheln hingen, waren blau bemalt und wie die Karosserie mit Sternen, Monden und Sonnen verziert. Auf dem Armaturenbrett lagen Salbeizweige, eine Packung Kürbiskerne und eine rote Wollmütze mit Ohrenklappen.
»Du riechst wie Oma Johanna«, sagte das Mädchen.
»Emma!«
Die Stimme der Frau war scharf, aber Roberta sah, dass sie sich das Lachen verkniff.
»Aber es stimmt! Sie riecht wie Oma, nur älter!«
Die, die heute alt sind, waren auch einmal jung, dachte Roberta ohne Verbitterung. War diese banale Tatsache jungen Menschen eigentlich bewusst? Sie hatte schon als Kind begriffen, dass sie sterben musste, gleichzeitig war es ihr unmöglich gewesen, sich als alte Frau zu sehen. Ich bin nicht unverwundbar, hatte sie damals gedacht, ich werde eines Tages sterben, aber immer jung bleiben!
»Die Hindus teilen das Leben in vier Stadien ein«, sagte die Frau und blickte Roberta lächelnd an, »zwanzig Jahre der Jugend, zwanzig Jahre als Kämpfer …«
»Als Kämpfer, verstehen Sie, nicht als Soldat oder so«, unterbrach sie Gerhard, »als Kämpfer!«
»Danach zwanzig Jahre als Familienoberhaupt«, fuhr seine Frau fort, »und zuletzt zwanzig Jahre, um den Geist zu kultivieren.«
»Hast du keine Familie?«, fragte Emma.
»Nein«, log Roberta, »und meinen Geist kultiviere ich auch nicht, befürchte ich, obwohl ich in diesem vierten Stadium bin.«
»Eine Frau in Ihrem Alter, allein unterwegs mit ihrem Hund«, sagte Gerhard, »nennen Sie das etwa nicht ›Arbeit am Geist‹?«
»Nein«, sagte Roberta leise, »das nenne ich Heimweh.«
Sie tranken Tee, und als Gerhard die Ärmel seines karierten Hemdes nach oben schob, um die leeren Teller zusammenzustellen, bemerkte Roberta die Tätowierungen. Schwarze Zeichen und Mäander, keltische Symbole, stilisierte Sonnen und Sterne sowie Worte und Zahlen in Frakturschrift bedeckten seine Arme bis zu den Handgelenken. Auf die Finger seiner linken Hand hatte er die Buchstaben L, O, V und E eintätowiert, auf die Finger der rechten die Buchstaben H, A, T und E; auf den Daumen prangte eine Sonne mit langen Zacken. Er stand auf und stellte die Teller in die Spüle; dann öffnete er den Kühlschrank, nahm eine Glasschüssel heraus und stellte sie auf den Tisch.
»Selbst gesammelt«, sagte Emma und zeigte auf den Fruchtsalat.
»Aber nur die Orangen«, sagte Gerhard.
»Wir waren in Malaga«, ergänzte die Frau.
»Ich war ein halbes Jahr nicht in der Schule!«
Snowflake stand auf, nahm Schälchen aus dem Regal, stellte sie auf den Tisch und legte Löffel daneben.
»Wir sind seit sechs Monaten unterwegs«, sagte Gerhard, »Camarque, Nordspanien, Portugal, Malaga.«
»Und die Schule?«, fragte Roberta.
»Wir sind eh die besseren Lehrer für Emma als die Arschlöcher an den Schulen in Wien«, sagte Gerhard laut.
»Und seit wann sind Sie unterwegs?«, fragte die Frau.
»Wir sind seit gestern unterwegs«, antwortete Roberta.
Prinz lag jetzt ausgestreckt neben ihr am Boden; seine Pfoten, die Ballen voller Dreck, zuckten im Schlaf.
»Und wohin geht die Reise?«, fragte Snowflake.
»Nach Hause.«
»Wo ist das, zu Hause?«, fragte Gerhard und fing an, Fruchtsalat in die Schälchen zu schöpfen.
»Ebensee.«
»Im Salzkammergut?«, fragte Snowflake.
Roberta nickte. Emma pickte die Orangenstücke aus ihrem Schälchen und aß sie, die anderen Fruchtstücke löffelte sie in die Schüssel zurück. Ihr Vater schaute ihr wortlos zu, dann fing er an, die Stücke, die sie zurücktat, mit den Fingern herauszuklauben und sich in den Mund zu stecken. Seine Frau warf
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