Wald aus Glas: Roman (German Edition)
flieht man!«
»Abgehauen«, sagte Snowflake, »ausgebüxt, durchgebrannt, geflohen, ausgebrochen, ist doch scheißegal, Teardrop! Wirklich?«
»Wirklich. Ich bin abge… ausgebrochen!«
Bald darauf trat Roberta aus dem Campingbus in den Wind hinaus, Prinz an ihrer Seite. Sie war auf rechtschaffene Art erschöpft, als habe sie ein Tagwerk vollbracht. Der See war in Aufruhr, Wellen klatschten gegen die Ufersteine, die Wolkendecke hatte sich abgesenkt, als wolle sie alle Luft aus dem engen Talbecken pressen. Sie selbst hatte kein Gewicht mehr, sie lächelte, war mit sich selbst eins. So also bin ich in Wirklichkeit, dachte sie erstaunt, war aber nicht fähig, den Gedanken weiterzuverfolgen. Ihre Hände waren feucht, ihr Mund trocken. Hatte sie sich von Emma, Snowflake und Teardrop verabschiedet? Hatte sie die drei umarmt und geküsst? Die Felswände, die am anderen Ufer schroff aus dem Wasser stiegen, leuchteten silbern,abweisend waren sie immer noch, kalt. Roberta ließ sich von Prinz auf den Uferweg ziehen und ging mit ihm dem Wasser entlang zu der Wiese zurück, auf der ihr Zelt stand.
Roberta sah durch den offenen Spalt am Eingang ihres Zeltes, dass sich der Himmel im Osten färbte. Der Horizont schälte sich aus der Nacht, sie fror; ihr Rücken war steif, ihr arthritischer Fußknöchel pochte. Prinz erwachte nicht einmal, als sie den Reißverschluss des Einganges ganz aufzog. In einem der Zelte brannte Licht, sie sah den Umriss eines Menschen mit einem Buch in der Hand und erinnerte sich an den Roman, den sie aus dem Altenheim mitgenommen hatte. Sie zündete die Gaslaterne an – Prinz hob den Kopf, schlief aber sofort wieder ein – und nahm »Frost« aus dem Rucksack. Die Beschreibung des zweiten Romantages war etwas länger als acht Seiten; es wurde bereits hell, als Roberta das Buch wieder zuklappte und die Laterne ausmachte. Sie würde sich die vier Worte, die ihr in der Passage, die sie gelesen hatte, ins Auge gestochen waren, so lange durch den Kopf gehen lassen, dass sie sich nach dem Aufwachen daran erinnern würde, um sie ihrer Liste hinzufügen zu können
Lodenfetzen
Menschenschatten
Baumstumpf
Gehirngefüge
Sie legte sich auf den Rücken, so nah neben Prinz, dass sie ihn berührte, schloss die Augen, benommen und an der Schwelle zum Schlaf, und ließ die Worte durch ihren Kopf ziehen.
14
Das Licht fiel so flach über die Felder, dass es blendete. Annikas Vater trug eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern, in denen Ayfer sich – sie saß auf dem Beifahrersitz – doppelt gespiegelt sah, wenn er ihr den Kopf zuwandte, darum versuchte sie immer wieder, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.
»Was transportieren Sie eigentlich?«
»Trockenfrüchte.«
»Feigen und Datteln?«
»Getrocknete Aprikosen. Aus Malatya in Anatolien.«
Die Nasen ihrer Spiegelbilder waren groß wie Gurken, die Augen klein wie Stecknadeln. Ayfer hatte einen aufgeschlagenen Reiseatlas auf den Knien liegen, weil sie die Ortsnamen auf den Autobahnschildern entziffern wollte; eine Weile lang hatten sie die Namen in kyrillischer Schrift belustigt, dann hatte sie sich darüber geärgert, nicht einmal zu wissen, an welchen Städten und Dörfern sie, hoch über der Fahrbahn thronend, vorbeifuhr. Pazardzhik. Kostenets. Ihtiman. Sofia. Kostinbrod. Slivnitsa. Dimitrovgrad. Bei Pirot, kurz nach der Grenze zwischen Bulgarien und Serbien, war Annika vom Beifahrersitz, den sie sich mit Ayfer geteilt hatte, ins obere Kojenbett geklettert, um Musik auf ihrem iPod zu hören und zu dösen. Es hatte nicht lange gedauert, und sie war eingeschlafen.
Mittlerweile war Ayfer die Landschaft egal; sie konzentrierte sich auf das Sonnenlicht, das halbe Dörfer auslöschte, Nahes in die Ferne rückte, Hügel doppelt belichtete, einzelne Häuser scharf aus ihrer Umgebung schnitt oder Blitze durch die Kabine schickte, die über die Wände und ihre Gesichterzuckten, ein Serienfeuer schmerzender Lichtmesserchen, das so abrupt abbrach, wie es begonnen hatte. Einmal gerieten sie in eine Wolke aus fliegenden Samen, weiße Fallschirmchen, durch die sie fuhren wie durch ein Schneegestöber, einmal hatte ein Lastwagen mit ungarischen Nummernschildern seine Ladung auf die Kriechspur der Autobahn geschüttet, Plastikenten, die krachend unter ihren Reifen zersplitterten.
»Hast du von den Plastikenten gehört, die seit zwanzig Jahren im Meer treiben?«
Annikas Vater wandte ihr den Kopf zu, und sie sah in den Gläsern seiner Sonnenbrille zu, wie zwei
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