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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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winzige, grotesk verzerrte Spiegelbilder von ihr die Köpfchen schüttelten.
    »Vor zwanzig Jahren ist in einem Sturm ein Schiffscontainer mit 28 800 Plastikspielzeugen aus China in den Pazifik gestürzt. Seither treibt die Flotte aus Enten, Fröschen und Schildkröten über die Meere. Erst zehn Monate nach dem Sturm sind in Alaska die ersten Plastikenten an Land gespült worden. 3200 Kilometer entfernt, kannst du dir das vorstellen? Eineinhalb Jahre später sind dann die nächsten in Hawaii gestrandet.«
    »Das erfinden Sie jetzt für mich«, behauptete Ayfer.
    »Gar nicht. Bis heute hat man etwa tausend von ihnen gefunden. Alle anderen fahren immer noch Karussell in den Strömungen.«
    Zu einigen Orten, an denen sie vorbeifuhren, hatte Annikas Vater etwas zu erzählen. In Kostinbrod war ihm ein herrenloser Hund in die Fahrerkabine gesprungen, während die Fracht entladen wurde, und hatte sich in sein Bett gelegt, was er erst nach mehr als fünfzig Kilometern Fahrt bemerkt hatte.Am Rand von Sofia hatte er in einem Motel übernachtet, um ausgiebig zu duschen; als er den Fernseher einschaltete, war er implodiert. In Slivitsna hatte ihn die Polizei verhört, weil man ihn verdächtigte, ein gesuchter Mädchenmörder zu sein. In Pirot hatte ihn ein alter Mann auf einem roten Damenfahrrad zur Fabrik geleitet, in der er Streichkäse für Österreich abholte. Auf dem Gepäckträger des Fahrrades war ein brauner Lederball festgeklemmt gewesen, der ihn noch heute beschäftigte, wenn er nicht einschlafen konnte.
    »Ist Ihre Frau früher auch mitgefahren?«
    Er nahm die Sonnenbrille ab, klappte sie zusammen und stieß sie in eines der Ablagefächer unter dem Armaturenbrett. Ayfer wollte nicht an Davor denken, aber sie musste. Das Mädchenlachen, das sie am Handy gehört hatte, ließ ihr keine Ruhe. Sie ging die Gesichter der Mädchen durch, mit denen sie ihn gesehen hatte, und versuchte, sich ihre Stimmen vorzustellen. Bevor sie losgefahren waren, hatte sie das Handy eingeschaltet und gesehen, dass er nicht versucht hatte, sie anzurufen und ihr auch keine Nachricht geschickt hatte. Annika hatte ihr auf ihrem iPhone ein Foto ihrer Mutter gezeigt. Sie war eine schmale Frau mit schwarzem Haar, das ihr blasses Gesicht einrahmte, als brauche es Halt. Ihre Augen wirkten traurig und schienen auszudrücken, sie habe mit diesem Leben abgeschlossen.
    »Ob meine Frau mitgefahren ist? Ein, zwei Mal. Es war ihr zu eng.«
    Ayfer redete nicht gern mit Erwachsenen, sie fühlte sich kontrolliert, belächelt oder bevormundet und war unsicher, ob nicht alle ihre Fragen klangen, als heuchle sie mit ihnen nur Interesse, um sich einzuschmeicheln. Die einzige Erwachsene,mit der sich Ayfer immer gern unterhalten hatte, war ihre Großmutter Nuray gewesen, die ihr zwar ein Leben lang Ratschläge erteilt hatte, allerdings nicht in Form von Belehrungen, sondern als Vorschläge einer alten Frau mit viel Lebenserfahrung, die sie mit ihrer Enkelin teilen wollte. Um diese Gespräche von Frau zu Frau in Ruhe führen zu können, hatten sie sich jeweils mit dem Samovar, der Zuckerdose, einem Kistchen Datteln und zwei Tulpengläsern in den Schatten des Rosenbusches hinter dem Haus gesetzt, Apfeltee und ayran getrunken, den salzigen, flüssigen Joghurt, den Ayfer ausschließlich im Haus ihrer Großeltern mochte, und über die Dächer von Amasra aufs Schwarze Meer hinausgeblickt.
    »Annika ist froh, dass du dabei bist.«
    Die Stimme von Annikas Vater war zittrig, er starrte stur geradeaus. Das Ratschen, das die Fahrerkabine erfüllte, weil sie über aufgerissenen Belag fuhren, gab Ayfer Zeit, über ihre Antwort nachzudenken, trotzdem fiel ihr nicht ein, was sie sagen sollte.
    »Sie hat eine Zwillingsschwester. Hat sie dir das erzählt?«
    Jetzt sah er sie doch an. Ayfer schüttelte den Kopf. Sie hatte Annika von ihrem Bruder Nadir erzählt, sie hatte ihn sogar beschrieben. Von einer Zwillingsschwester hatte Annika kein Wort gesagt.
    »Annemarie lebt bei ihrer Mutter. Annika leidet unter der Trennung von ihr. Es macht sie traurig.«
    Ayfer mochte es nicht, wenn Erwachsene ihr vertrauliche Dinge erzählten und sie wie ihresgleichen behandelten. Vor allem nicht dann, wenn sie diese Erwachsenen belogen hatte. Ihre Großmutter Nuray hatte ihr zwei Wochen vor ihremTod geraten, sie solle sparsam mit ihrer Traurigkeit umgehen. Warum das so sei, werde sie begreifen, wenn sie das erste Mal wirklich richtig traurig sei, jetzt sei sie dafür noch zu jung. Bin ich jetzt alt

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