Wald aus Glas: Roman (German Edition)
vermutete, dass Snowflake meistens am Steuer des Busses saß, während ihr Mann damit beschäftigt war, alle paar hundert Meter zu kommentieren, was ihm auffiel, um danach sofort wieder in brütendes Schweigen zu versinken.
Am Grenzübergang vor Feldkirch wurden sie durchgewinkt, einer der Zollbeamten hob den Blick und sah Roberta durchdringend an, und sie stellte sich vor, dass sie wie auf einem Bildschirm an ihm vorbeiglitt, präsentiert auf der Guckkastenbühne des Busfensters. Der Zöllner nickte freundlich, sonst zeigte er keine Reaktion. Er hat meine Vermisstenanzeige nicht gesehen, sagte sich Roberta, vielleicht gibt es gar keine.
Roberta und Emma saßen sich am Tisch gegenüber, an dem sie gestern Abend gegessen hatten, Prinz lag am Boden und schlief, Emma war damit beschäftigt, mit Buntstiften vorgedruckte Mandalas auszumalen. Sie fuhren an einer Gruppe von Bauarbeitern vorbei, die ein dickes Kabel von einer Holzspule rollten. Ein Arbeiter sah ihnen nach, träge vor Sehnsucht auf seine Schaufel gestützt. Pappeln standen im Wind, Masten von Überlandleitungen. Als junge Frau hatten sie diese Masten an Riesen erinnert, die mit gewaltigen Schritten durch die Landschaft marschierten, Riese hinter Riese, weit auseinander, weil sie zwar zusammengehörten, sich aber nichts mehr zu sagen hatten. Wie viele Jahre war esher, seit sie die gleiche Strecke als junge Frau das erste Mal in anderer Richtung gefahren war, auf der Suche nach Arbeit und einem Leben in der Fremde? Sie brauchte einen Moment, um die Zahl auszurechnen. Vor fünfundfünfzig Jahren! In der Jugend war das Alter irreal gewesen, ein Schauermärchen. Nun war es Realität. Sie betrachtete ihre Hände, die vor ihr auf dem Tisch lagen, die leicht verkrümmten Finger, die vielen Altersflecken, das dick und blau hervortretende Geflecht der Adern, die großen Poren, die durchscheinende Pergamenthaut. Hände wie Truthahnfüße, genau wie Humbel! Sie erinnerte sich daran, was ihr als Mädchen durch den Kopf gegangen war, als sie ihrer Großmutter das erste Mal die Hand gereicht hatte: Zweige, hatte sie gedacht, ich halte ein Bündel trockener Zweige, die ich mit meiner Kinderhand zerbrechen könnte. Auch an den Geruch, der ihr damals in die Nase gestiegen war, erinnerte sie sich: muffig, abgestanden, süßlich und würzig, als köchle im Innern ihrer Großmutter etwas Saftiges auf kleinem Feuer. Der Geruch des Alters. Roch sie selbst nun auch so?
In den ersten fünf Jahren war sie jeden Sommer und an Weihnachten nach Hause zurückgekehrt. Aber nach ihrer Heirat 1962 und der Geburt ihres Sohnes waren ihre Besuche seltener geworden. 1970 hatte sie ihren Stiefvater Johann zu Grabe getragen, seither war sie nur noch drei Mal in ihrem Geburtsort in Österreich gewesen: Vier Jahre nach der Beerdigung hatte ihre jüngere Schwester Fanny zum zweiten Mal geheiratet, einen Hotelier mit eisblauen Augen; im Jahr darauf war ihr älterer Bruder Josef, der Stalingrad überlebt hatte, an Darmkrebs gestorben; im Herbst 1982 war sie nach ihrer Scheidung nach Ebensee gereist, weil sie plötzlichHeimweh verspürt hatte. Heimweh, das sich in Luft aufgelöst hatte, sobald sie durch die Straßen ihres Geburtsortes gegangen war.
»Hunde sind viel besser als Katzen«, sagte Emma, zeigte mit einem Stift auf sie und sah sie herausfordernd an.
»Find ich gar nicht.«
»Warum hast du dann einen Hund?«
»Früher hatte ich auch Katzen.«
»Katzen gehorchen nicht. Sie machen, was sie wollen.«
»Genau wie du!«, rief Gerhard vom Beifahrersitz.
»Hunde gehorchen. Sie machen, was ich will«, sagte Emma, ohne sich um ihren Vater zu kümmern.
Das Vorarlberg hatte Roberta nie gefallen, sie fühlte sich von der Landschaft bedrängt. Eine Durchgangsstation, ein Vorzimmer ohne Tür und Fenster, in dem man ungeduldig, aber ergeben wartete, ohne genau zu wissen, worauf. Kurz bevor sie in den Arlberg-Tunnel fuhren, fing es an zu regnen. Tropfen platzten auf der Frontscheibe und trommelten so laut über das Blechdach, dass Prinz erwachte, den Kopf hob und sich umsah. Nach einer Weile legte er sich wieder hin und schlief weiter. Wenn sie von einem anderen Auto überholt wurden, schaukelte der Bus, als werde er angestupst. Sie schwiegen, versunken in die Musik, die in der Betonröhre eine suggestive Kraft entwickelte. Roberta bekam das Gefühl, sie werde von der einfachen Orgelmelodie davongetragen. Der Bus glitt wie auf Schienen durch den dunklen Tunnel, seine Karosserie schlug Funken an der
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