Wald aus Glas: Roman (German Edition)
genug, um »richtig traurig« zu sein? Und was heißt »richtig traurig« sein überhaupt? Sie fuhren durch einen Tunnel, und Ayfer betrachtete fasziniert die verzitterte Silhouette ihres Spiegelbildes in der Scheibe vor dem Hintergrund eines weißen Farbstreifens, der auf die Betonröhre gepinselt war.
»Wie willst du von Wien aus weiterkommen?«
»Mit dem Zug.«
»Und deine Eltern? Wie werden sie reagieren?«
»Sie werden sich freuen.«
»Dein Vater auch?«
»Hoffentlich.«
»Hast du Geld für den Zug?«
Ayfer nickte. Würde sie Erwachsene auch dann belügen, wenn nicht die meisten Gespräche mit ihnen irgendwann zu Verhören wurden und sie den Eindruck bekam, man glaube ihr nicht, dass sie die Wahrheit sage?
»Der Mann, mit dem sie mich verheiraten wollen, hat nur einen Arm«, sagte sie und strich sich theatralisch über die Stirn.
»Jetzt heiratest du ihn ja nicht.«
Sie sah den Mann vor sich, er hatte den linken Ärmel seines Jacketts mit Sicherheitsnadeln an der Schulterpartie festgesteckt, sogar die Stimme des Mannes konnte sie sich vorstellen, man hörte ihr das Leid an, das er erdulden musste, und die Demütigungen, an denen der fehlende Arm schuld war.
»Abgerissen. Eine Autobombe. In Diyarbakir.«
»Da war ich auch schon. Nicht gerade ungefährlich. Aber die haben die größten Wassermelonen dort. Riesentrume.«
»Erzählt meine Freundin wieder Märchen«, sagte Annika. Sie lehnte aus der oberen Koje und legte Ayfer eine warme Hand auf den Scheitel.
15
Roberta begriff nicht sofort, wer vor ihrem Zelt kniete. Ich kenne, dachte sie, doch gar keine Kinder! Die Sonne, die ein zitterndes Lichtquadrat auf die Zeltwand warf, löschte das Gesicht des Mädchens, machte einen verschwommenen, konturlosen Fleck daraus. Der Himmel hinter dem Mädchen war ausgewaschen, fahl, das Licht schien nicht von der Sonne zu stammen, die Luft selbst strahlte es ab, die Welt leuchtete aus sich selbst heraus. Prinz lag auf der Wiese und ließ sich von Emma den Bauch kraulen. Roberta war schwindlig, ihr Mund fühlte sich pelzig an; warum hatte sie nicht einmal bemerkt, dass ihr Hund aus dem Zelt gekrochen war?
»Wir fahren heute weiter. Paps sagt, wenn du willst, nehmen wir dich mit.«
»Ihr fahrt nach Wien?«
»Nicht nach Wien, nein, zu meinen Großeltern, die wohnen da, wo die Schanze steht.«
»Nach Innsbruck? Ich fahr gern mit euch mit, Emma, aber bis ich so weit bin, seid ihr längst über alle Berge.«
»Mams ist grad erst erwacht. Ich hol dich in einer Stunde ab. Schaffst du das?«
Emma stand auf und klatschte in die Hände. Prinz hob den Kopf; erstaunt, nicht länger liebkost zu werden, sprang er auf die Beine, bellte und jaulte wie ein Kind, das Aufmerksamkeit fordert.
»Den nehm ich mit!«, rief Emma, packte die Leine und lief mit Prinz über die Wiese davon, ohne die Erlaubnis abzuwarten.
Roberta spürte eine Trostlosigkeit, die sie nicht zulassen wollte. Sie setzte sich auf und massierte ihren Fußknöchel. Dann kroch sie aus dem Zelt und ging zum Waschraum hinüber, ein Badetuch über der Schulter wie eine Sportlerin. Sie duschte so heiß, dass es ihr den Atem verschlug; sie drückte die Augen zu, seifte sich gründlich ein und drehte sich so lange um die eigene Achse, bis sie spürte, wie sie sich unter dem Wasser entspannte und sich die Muskeln lösten. Lodenfetzen. Menschenschatten. Baumstumpf. Gehirngefüge. Die Worte aus »Frost«, die sie sich hatte merken wollen, fielen ihr ein, und sie nahm sich vor, sie nachher auf die Liste zu setzen. Sie zog sich an, leise mit sich schimpfend, weil sie, zum ersten Mal seit langem, mit den Stützstrümpfen zu kämpfen hatte; als sie aus der Kabine trat, war der Spiegel über dem Waschbecken beschlagen, und ihr Anblick blieb ihr erspart. Trotzdem fiel ihr ein, was sie gestern getan hatte, sie fühlte sich töricht und schämte sich. Hatte sie nicht immer Sicherheit und Trost darin gefunden, die Kontrolle über sich zu behalten?
Sie verließ den Waschraum und ging in ihren Badeschlappen über das feuchte Gras. Es war Zeit, das Zelt abzubauen, den Rucksack zu packen und die Wanderstiefel zu schnüren.Gerhard saß auf dem Beifahrersitz, eine geschnitzte Flöte in der Hand, auf der er zum Glück nur ein paar Minuten lang gespielt hatte. Seine Frau trug die Wollmütze mit den Ohrenklappen, steuerte den Bus mit einer Hand und sang lauthals zur Musik, die lief. Sie fuhr schnell und sicher, es gefiel ihr ganz offensichtlich, den Camper zu lenken. Roberta
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