Wald aus Glas: Roman (German Edition)
verfilzt. Der runden Nickelbrille fehlte ein Glas, er hatte einen Zigarillo im Mundwinkel, der nicht brannte.
»Noch eine, die auf dem Rückweg ist.«
Seine Nase war unförmig wie eine Wurzel, sein rechtes Auge blutunterlaufen, bestimmt war ein Äderchen geplatzt.
»Auf dem Rückweg?«
»Auf dem Rückweg, genau.«
Er trug Wollhandschuhe mit abgeschnittenen Fingern; der Mittelfinger seiner linken Hand fehlte, die Nägel der anderen Finger waren schwarz vor Dreck.
»Das ist gut. Aber passen Sie auf Ihren Hund auf.«
Roberta nickte. War sie wirklich auf dem Rückweg? Und wo hörte er auf, dieser Rückweg, wo endete er?
»Ich pass ganz bestimmt auf ihn auf.«
»Auf sich müssen’s nicht mehr aufpassen. Weil’s eh schon zu spät ist.«
»Wollen Sie mir sagen, dass ich sterbe?«
»Wir sterben alle. Irgendwann. Aber Schüsseln mit Sprung halten am längsten. Haben Sie schon gefunden, was sie verloren haben?«
»Wie bitte?«
»Vielleicht suchen Sie nach dem Falschen. Da. Das ist für Sie.«
Er griff in seine Manteltasche und drückte ihr einen schwarzen Stein in die Hand. Der Stein war glatt und warm und hatte die Form einer stumpfen Pfeilspitze.
»Ein Pfand«, sagte der Mann.
»Ein Pfand? Für was denn?«
»Das werden Sie schon sehen.«
»Das kann ich nicht annehmen.«
»Sie können nicht, aber Sie müssen.«
War das tröstlich oder bedrohlich? Der Mann kam um seinen Einkaufswagen herum und drückte sie an sich. Er roch nach Schnaps, aus seinen Ohren wuchsen Haarbüschel. Roberta erduldete die Umarmung mit hängenden Armen. Als er sie wieder frei gab, ließ sie den Rucksack vom Rücken gleiten und öffnete das Seitenfach.
Sie wollte, sie musste ihm Geld geben, wollte das Pfand kaufen. Aber ihr Portemonnaie war verschwunden. Hatte sie es ihm Zug verloren? Die junge Frau fiel ihr ein, die ihr auf die Beine geholfen hatte, aber den Gedanken, sie könnte sie bestohlen haben, ließ Roberta nicht zu. Bestimmt hatte sie den Geldbeutel in Innsbruck verloren, als sie die Fahrkarte gekauft hatte. Ist es nicht ein Glück, dachte sie, bewahre ich meine Kreditkarte nicht im Geldbeutel auf? Sie würde auf dem Weg zum Bahnhof einen Geldautomaten finden und genügend Geld für die nächsten Tage ziehen.
»Ich nehm eh kein Geld.«
»Ich will das nicht«, sagte sie und versuchte, dem Mann den Stein in die Hand zu drücken.
»Sie wollen ihn nicht, aber Sie brauchen ihn. Glauben Sie mir. Ob es Ihnen passt oder nicht. Sie brauchen ihn.«
»Einen Stein? Wo ist er überhaupt her?«
»Vom Himmel gefallen.«
»Und wo?«
»Die Erinnerung ist ein Hund, der sich hinlegt, wo er will«, sagte der Mann und kicherte.
Der Stein passte genau in ihre Hand; er fühlte sich an, als brauche sie bloß stark genug zu drücken, um ihn in die Formzu bringen, die sie sich wünschte. Sie steckte ihn in die linke Hosentasche; so würde sie ihn als Rechtshänderin nicht so oft anfassen.
Der Mann lächelte, als lese er ihre Überlegungen, dann packte er die Griffe seines Einkaufswagens, die mit Isolierband umwickelt waren, deutete eine Verbeugung an und ließ sie stehen.
22
Ayfer ging bis ans Ende des Bahnsteiges, dort war sie allein, und wählte seine Nummer. Die Luft war unangenehm kalt, aber das Handy fühlte sich warm an. Sie nahm sich vor, nicht auf seine Mailbox zu sprechen; wenn er sich nicht meldete, sollte er zumindest mit der Ungewissheit leben, wo sie war. Er sollte sich Sorgen machen um sie. Die Randsteine des Bahnsteiges waren rostrot verfärbt, zwischen dem Gleisstrang lag eine zerfetzte Babywindel.
»Wo bist du, Ayfer?«
Seine Stimme klang nicht wütend, sondern unsicher und ängstlich. Er macht sich also wirklich Sorgen um mich, dachte Ayfer.
»Auf dem Weg zu dir bin ich«, sagte sie.
»Ich hab tausendmal bei dir angerufen!«
»Ich seh auf dem Display, wie oft du angerufen hast!«
»Deine Eltern waren bei mir. Dein Vater ist völlig durchgedreht.«
»Sind sie in Suhr?«
»Der Arsch behauptet, ich bin schuld, dass du bei deinem Onkel abgehauen bist!«
»Sie sind beide in Suhr? Suchen sie nicht nach mir?«
»Deine ganze verdammte türkische Sippschaft sucht nach dir! Bist du noch dort? In der Türkei?«
»Haben sie die Polizei alarmiert?«
»Wo bist du?«
»Sucht die Polizei nach mir?«
Davor lachte. Ayfer stellte sich vor, wie er am Fenster seines Zimmers im achten Stock stand und über die Wiese an der Wynenmatte zum Wald hinübersah, in dem sie mit seinen Kumpels ein Feuer gemacht und Würste gebraten
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