Wald
selbst giftig werden. Zur Nahrung dienen jegliche Art von größeren Tieren, am liebsten aber Menschen, und unter diesen sind es vor allem die jungen Frauen, die den esurio draconis, den Drachenhunger, stillen können. Trotzdem begibt sich ein Drache nur selten auf Jagd und verlässt seinen Hort nur, wenn es wirklich dringlich ist, da er von Natur aus ein Wächter ist. So wacht er gewissenhaft über seinem Schatz, worin der hochgeschätzte Abt von Gyorgi einen Ausdruck der hölllischen Wärterfunktion sieht, für die der Drache erschaffen wurde, und die er in unserer gefallenen Welt symbolisiert. So begibt es sich, dass man einen Drachen zumeist nur in seiner Höhle stellen kann.«
Obwohl Envin die letzten Zeilen wiederholt gelesen hatte, rutscht ihm sein Herz in die Hose, während er durch den dunklen Wald läuft. Alleine. Sidus hatte, ob seines eingeschränkten Wahrnehmungsvermögens, erstaunlich schnell sein Schwert parat und rannte, nach dem Drachen schreiend, ins Dunkle. Envin blieb an der Feuerstelle zurück und begann unwillkürlich zu zittern. Im ersten Moment wollte er einfach sitzen bleiben; am Feuer, in der Hoffnung die Wärme der Flammen würde ihm ein vages Gefühl von Sicherheit vermitteln. Das war aber nicht der Fall. Was wäre wenn der Drache, oder welches Monstrum auch immer diese furchterregenden Laute von sich gegeben hatte, ihn auf sich gestellt am Lagerplatz vorfinden würde? Besser wäre es seinem Bruder zu folgen, der dem Biest hoffentlich etwas entgegenzusetzen hat. Doch jetzt steht Envin wie ein schimmliger Pilz im Wald und sucht verzweifelt nach Sidus. Müssten seine Spuren im Schnee nicht problemlos zu finden sein? Vorsichtig schleicht Envin weiter, während die weiße Decke im Mondlicht erstrahlt. Jetzt erst fällt es ihm auf; es ist Vollmond. Was wenn die Geräusche von einem Werwolf kamen? Er vertreibt den Gedanken und tastet sich durch die dichten Äste, um keinen Lärm zu machen. Auf einmal hört er wieder Klänge und erstarrt. Es hört sich anders an, als das was er vorhin am Feuer vernommen hat. Weicher. Und melodischer. Fast so als würde jemand ein Lied summen.
Sidus kann es nicht sein, dafür klingt die Stimme zu – weiblich!
Er sieht sich um.
Was geht hier vor sich?
Er möchte am liebsten wegrennen, doch seine Beine sind wie eingefroren.
Und wenn es tatsächlich eine Frau ist?
Sollte er dann nicht nach ihr sehen, um sie zu beschützen? Envin hat Angst, soviel ist sicher. Aber jetzt will er auch wissen, was los ist. Schließlich setzt er sich in Bewegung, langsam den Tönen folgend. Mit jedem Schritt, den er der Geräuschquelle näher kommt, schmiegt sich ein mildes Gefühl mehr und mehr um seine Seele, was ihn nur noch mehr verwirrt.
Und dann sieht Envin sie. Und denkt er müsse den Verstand verloren haben.
Dort, an einem kleinen Teich, sitzt wirklich eine Frau auf einem Baumstamm. Ihre Finger lässt sie in dem schwarzen Wasser kreisen, in dessen Oberfläche sich der Mond spiegelt, der durch die zarten Wellen erzittert.
Sie summt weiter, sieht nicht zu ihm herüber, er kann ihr Gesicht nur von der Seite sehen, doch er muss es wissen. Benommen torkelt er auf sie zu, bis sie sich zu ihm dreht und er im halben Schritt stehen bleibt.
»Aber«, stammelt er und verstummt.
Llyle erhebt sich und schreitet auf ihn zu, beinahe so als würde sie über den Boden schweben. Mit einer Handbewegung deutet sie ihm an, dass er schweigen solle. Lächelnd bleibt sie vor ihm stehen.
Sie ist so nah, dass Envin ihren Atem auf seiner Haut spüren kann.
Wie kann das sein?
Die Wärme ihres sanften Odems vertreibt für einen Moment all seine logischen Erklärungsversuche.
»Sidus wird es nicht gefallen, Euch hier zu sehen.«
Llyle macht noch einen Schritt auf ihn zu. Envin weicht zurück, solange bis er mit dem Rücken an einen Baum stößt und nicht mehr weiter kann. Sie kommt mit ihrem Mund ganz nahe an sein Ohr. Ihr Atmen ist immer intensiver zu spüren, während die kleinen Härchen auf seiner Haut sich empor stellen.
»Aber Sidus muss doch überhaupt nicht erfahren, dass ich hier bin«, flüstert sie ihm behutsam zu.
Envins Muskel spannen sich unwillkürlich an. Llyle nimmt ihren Kopf ein paar Zentimeter zurück und schweigt wieder. Envin realisiert, dass sich auch in seiner Hose Muskel angespannt haben, was ihm außerordentlich peinlich ist. Hoffentlich kann Llyle die Erhebung nicht durch die ledernen Hosen sehen, denkt er gerade, als sie mit ihren Lippen seine rechte Backe
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