Walden Ein Leben mit der Natur
sind ungebildete, primitive Analphabeten.
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Und in dieser Hinsicht, muß ich gestehen, mache ich keinen Unterschied zwischen den Ungebildeten meiner Mitbürger, die überhaupt nicht lesen können, und den Halbgebildeten, die nur das lesen lernten, was sich für Kinder und Schwachköpfe eignet. Wir sollten so hervorragend sein wie die großen Männer der Antike, aber dann müssen wir erst wissen, wie
hervorragend sie waren. Wir sind ein Volk von
Meisenmenschen und schwingen uns in unserem geistigen
Flug nicht weit über die Spalten der Tageszeitung hinauf.
Es sind nicht alle Bücher so stumpfsinnig wie ihre Leser. Es finden sich manchmal Aussprüche in ihnen, die genau auf unsere Verhältnisse zutreffen, die, wenn wir sie richtig lesen und verstehen, für unser Leben heilsamer sein können als der Morgen oder der Frühling und vielleicht allen unseren
Angelegenheiten ein neue Wendung geben. Wie viele hatten nicht einem Buch eine neue Ära ihres Lebens zu verdanken!
Irgendwo ist das Buch vielleicht vorhanden, das unsere Wunder erklärt und uns neue Wunder offenbart. Was uns selbst noch unaussprechlich erscheint, findet sich vielleicht bereits irgendwo ausgesprochen. Die gleichen Fragen, die uns
beschäftigen, beunruhigen und verwirren, haben von jeher alle Menschen beschäftigt. Nicht eine einzige von ihnen ist
übergangen worden. Und jeder hat sie seiner Veranlagung nach mit seinen Worten und seinem Leben beantwortet. Mit der Weisheit wächst überdies ein liberales Wesen. Ein einsamer Hilfsarbeiter einer Farm in der Umgebung von Concord hatte seine Wiedergeburt und seltsame religiöse Erfahrungen erlebt, und seine Frömmigkeit brachte ihn dazu, den neuen Glauben in stiller Nüchternheit als einzige Wahrheit anzuerkennen. Er mag keine andere Weisheit gelten lassen. Vor Tausenden von
Jahren ging Zarathustra auf derselben Straße und machte die gleiche Erfahrung; er aber wußte, da er weise war, daß sie allgemeinmenschlich war und behandelte seine Nächsten
dementsprechend. Von ihm wird sogar behauptet, daß er den Gottesdienst erfunden und unter die Menschen gebracht hat.
Laßt jenen sich also in Demut mit Zarathustra austauschen und, durch den befreienden Einfluß aller großen Geister, mit
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Jesus Christus selbst, und laßt ihn »unsere Kirche« über Bord werfen.
Wir rühmen uns, dem neunzehnten Jahrhundert anzugehören und von allen Nationen die größten Schritte nach vorn zu machen. Doch wie wenig leistet dieser kleine Ort für seine eigene Kultur? Ich möchte meinen Mitbürgern ebensowenig schmeicheln, wie sie mir schmeicheln sollen, denn das bringt keinen von uns weiter. Im Gegenteil, wir brauchen Ansporn, müssen angetrieben werden wie die Ochsen zum Trab. Wir
verfügen über ein vergleichsweise anständiges System
staatlicher Volksschulen für Kinder; doch außer einer
kümmerlichen Volkshochschule im Winter und, neuerdings, den spärlichen Anfängen einer Stadtbücherei, haben wir keine Schulen für uns selbst. Alles, was unserer körperlichen Ernährung und Pflege dient, lassen wir uns mehr kosten als unsere geistige Ernährung. Es wäre an der Zeit, Volksschulen für das erwachsene Volk zu gründen, damit wir unsere
Erziehung nicht aufgeben, sobald wir zu Männern und Frauen geworden sind. Es wäre an der Zeit, ganze Dörfer zu
Universitäten zu machen und ihre älteren Einwohner zu deren
»Fellows«, damit sie in Muße - wenn sie tatsächlich so gut dotiert sind - den Rest ihres Lebens mit zwanglosen Studien verbringen können. Muß die Welt für immer auf eine Sorbonne und ein Oxford beschränkt bleiben? Können sich Studierende nicht einfach hier einschreiben und eine liberale Ausbildung unter dem Himmel von Concord genießen? Können wir nicht auch einen Abelard anstellen, der bei uns Vorlesungen hält?
Aber ach! das Vieh muß gefüttert und die Geschäfte geführt werden. Wir werden zu lange von der Schule abgehalten, und unsere Erziehung wird traurig vernachlässigt. Hier in Amerika sollte die Stadt in mancher Hinsicht die Stelle des Adligen in Europa einnehmen. Sie sollte der Patron der schönen Künste sein. Reich genug ist sie. Es fehlt ihr nur an Edelmut und Vornehmheit. Für Dinge, die Bauern und Kaufmänner
gutheißen, kann sie genug Geld aufbringen, doch Geld für Dinge auszugeben, die nach Kenntnis von gescheiteren
Menschen ungleich wertvoller sind, wird als utopisch
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angesehen. Unsere Stadt hat, dem Glück oder der Politik sei Dank,
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