Walden - Leben in den Wäldern: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
durch Erfahrung geläuterte Weisheit. Solch ein Auge wurde nicht gleichzeitig mit dem Vogel geboren, sondern ist so alt wie der Himmel, der sich in ihm spiegelt. Der Wald gebiert kein zweites Kleinod von solcher Reine. Nicht häufig blickt der Wandersmann in solch lauteren Quell. Jäger schießen oft aus Unverstand oder Spielerei die Alten um diese Zeit. Dann fallen die Jungen den Raubtieren aller Art anheim, oder sterben allmählich zwischen den welken Blättern, denen sie ja stets gleichen. Wenn sie von einem Haushuhn ausgebrütet sind, und sich beim ersten Alarm zerstreuen, so sind sie verloren, denn sie hören nicht der Mutter Ruf, der sie wieder sammeln möchte. Das waren meine Hennen und Hühnchen.
Es ist erstaunlich, wie viele Geschöpfe wild und frei, wenn auch verborgen in Wäldern leben und, nur von Jägern gekannt, in der Nähe der Städte sich zu behaupten wissen. Wie verborgen lebt die Otter hier! Sie wird vier Fuß lang, so groß wie ein kleiner Knabe, und doch wird sie vielleicht nie von Menschenaugen erblickt. Früher sah ich Waschbären in den Wäldern hinter jener Stelle, wo mein Haus errichtet wurde, und nachts höre ich auch noch ihr Winseln. Meistens ruhte ich mich um die Mittagszeit im Schatten ein bis zwei Stunden von der Feldarbeit aus, aß mein Frühstück und las ein wenig an der Quelle, welche das Moor durchtränkt und einem Büchlein Nahrung gibt. Sie sickert unter Brister's Hügel, eine halbe Meile von meinem Feld entfernt, hervor. Um dorthin zu gelangen,mußte ich erst eine Reihe grasbewachsener, welliger Niederungen durchwandern, in denen junge Pechtannen wuchsen. Dann erst kam ich bei dem Moor in einen größeren Wald. Hier gab es unter dem Dach einer Weißtanne ein abgelegenes, schattiges Plätzchen, eine saubere feste Grasbank, auf welcher man niedersitzen konnte. Ich hatte die Quelle ausgegraben und einen Brunnen mit klarem, grauen Wasser geschaffen, aus dem ich eimerweise schöpfen konnte, ohne ihn zu trüben. Im Hochsommer, wenn der Teich am wärmsten war, ging ich fast täglich zum Wasserholen hierher. Dorthin führte auch die Waldschnepfe ihre Jungen, um im Schlamm nach Würmern zu suchen. Sie flatterte nur einen Fuß hoch über den Jungen am Bachesrand, während die kleine Schar unter ihr dahinlief. Sobald sie mich jedoch entdeckte, verließ sie ihre Jungen und schwebte um mich herum, immer engere Kreise ziehend. Sie kam näher und näher – bis auf vier Fuß – an mich heran, stellte sich, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, als ob sie Flügel und Füße gebrochen habe, während die Brut, den mütterlichen Anweisungen folgend, die bereits begonnene Flucht nach dem Sumpf im Gänsemarsch und unter schrillem, wenn auch schwachem Piepsen fortsetzte. Bisweilen vernahm ich auch das Piepen der Jungen, während ich nach der Mutter vergeblich ausschaute. Auch Turteltauben saßen hier über der Quelle oder flatterten auf der zarten Weißtanne von einem Ast zum andern. Besonders neugierig und zutraulich war ein rotes Eichhörnchen, welches am nächsten Zweig herunterlief. Man brauchte nur lange genug an einem schönen Platz im Walde ruhig sitzen zu bleiben, um mit allen Bewohnern der Reihe nach Bekanntschaft zu schließen.
Doch auch weniger friedliche Ereignisse konnte ich beobachten. Als ich eines Tages zu meinem Holzhaufen oder vielmehr zu meinem Baumstumpfhaufen kam, sah ich zwei große Ameisen, die in erbittertem Kampfe sich befanden. Die eine war rot, die andere, weit größere, war schwarz und fast einen halben Zoll lang. Nachdem sie einmal sich gegenseitig gepackt hatten, ließen sie nicht mehr locker, sondern kämpften und rangen und rollten auf den Holzspänen ohne Unterlaß hin und her. Als ich weiter Umschau hielt, sah ich zu meinemErstaunen, daß die Späne mit solchen Kämpfern bedeckt waren, daß kein duellum sondern ein bellum hier stattfand, ein Krieg zwischen zwei Ameisenvölkern! Überall kämpfte eine rote gegen eine schwarze, oder zwei rote fochten mit einer schwarzen. Die Legionen dieser Myrmidonen bedeckten alle Hügel und Täler meines Holzhofes. Schon war der Boden mit roten und schwarzen Toten und Sterbenden besät. Es war das einzige Schlachtfeld, das ich je sah, das einzige Schlachtfeld, das ich betrat, als wilder Kampf wütete. Ein Kampf auf Leben und Tod! Die roten Republikaner auf der einen Seite, die schwarzen Kaiserlichen auf der anderen. Überall wurde erbittert gekämpft, ohne daß ich irgend ein Geräusch vernehmen konnte. Nie
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