Waldesruh
einige auch in der Nacht an dem Häuschen vorbeirumpelten.
Am Sonntagnachmittag erstrahlte die Küche in frischem Gelb – ebenso wie Emily und Marie, stellenweise. Sie beschlossen, zum Baggersee zu radeln. Beim Schwimmen würde die Farbe sicher aufweichen. Ehe ihnen Janna Moritz aufs Auge drücken konnte, rafften sie ihre Badesachen zusammen und fuhren davon.
Am See war es für einen Sonntag ruhig, die meisten waren in die Sommerferien gefahren. Marie und Emily trafen keine Klassenkameraden, dafür aber ihre Sport-und Kunstlehrerin, Frau Kramp, die von ihrem Buch aufsah und ihnen zuwinkte, als sie an ihr vorbei zum Wasser gingen. Im Bikini und mit den Haaren unter dem breitkrempigen Sonnenhut hätten Emily und Marie ihre Lehrerin beinahe nicht erkannt.
»Hallo, Emily. Toll, dass du doch noch den Ferien-Malkurs mitmachen kannst«, sagte Frau Kramp. »Wolltest du nicht ursprünglich mit deinen Eltern verreisen?«
»Sie wollten, ich nicht«, antwortete Emily. »Ich darf die Ferien bei Marie verbringen.«
»Oh, da habt ihr sicher eine Menge Spaß. Was ist, wäre der Kurs nicht auch etwas für dich, Marie? Es ist noch ein Platz frei.«
»Ich überlege es mir«, sagte Marie. Kunst gehörte nicht zu ihren Stärken, sie hatte im Zeugnis lediglich eine Zwei bekommen – was für Marie einer schlechten Note gleichkam.
»Dass die hier so allein am See rumliegt«, wunderte sich Marie, als sie und Emily nebeneinander über den kleinen See schwammen.
»Warum denn nicht?«, fragte Emily zurück.
»Hat sie keinen Mann oder einen Freund?«
»Anscheinend nicht«, sagte Emily. »Obwohl sie ja ganz passabel aussieht.«
»Bestimmt ist sie eigenartig und schwierig – eine Künstlerin eben.«
»Glaub ich nicht. Im Unterricht finde ich sie ganz gut.«
»Das stimmt«, sagte Marie. »Ganz im Gegensatz zu dem blöden Siebert...«
Und dann lästerten sie über sämtliche Lehrer und Lehrerinnen ihrer Schule, bis sie wieder am Ufer angelangt waren. Frau Kramp war inzwischen gegangen. Sie genehmigten sich ein dickes Eis am Kiosk, danach legten sie sich auf ihre Decke und sonnten sich. Es roch nach Sonnencreme und Gegrilltem, irgendwo tobten kleine Kinder, man hörte Musik aus einem tragbaren CD-Player und die Gesprächsfetzen der Vorübergehenden. Farbige Muster tanzten vor Emilys geschlossenen Augen, sie genoss die Wärme und wünschte sich, dass der Sommer niemals zu Ende gehen müsste.
Sie blieben bis zum späten Abend. Als sie ihre Decke zusammenlegten, hielt Marie inne und schaute über den See. Es war still geworden. »Was meinst du?«, fragte sie leise. »Sollen wir mal im Wäldchen vorbeischauen?«
Sie fanden die Stelle auf Anhieb wieder. Noch in der Nacht des Begräbnisses hatten sie die übrig gebliebene Erde großflächig über der Grabstätte verteilt, damit niemandem ein verdächtiger Erdhaufen auffallen konnte. Nun hatten sich schon ein paar trockene Blätter unter die Erde gemischt, es sah beinahe so aus, als hätten Wildschweine den Boden umgewühlt.
Im Herbst wird hier niemand mehr etwas erkennen, dachte Emily. Sie fühlte sich seltsamerweise kein bisschen unwohl, im Gegenteil, es war sehr friedlich hier – wie auf einem Friedhof. Die sinkende Sonne blitzte freundlich zwischen den Zweigen durch, die Luft roch würzig. Und schließlich fühlte sie sich auf Friedhöfen ja auch nicht unwohl – zumindest nicht bei Tag. Die Tatsache, dass hier lediglich die Erlaubnis einer Behörde fehlte, machte Frau Holtkamps Grabstätte noch lange nicht zu einem Ort des Schreckens.
»War sie eigentlich...naja, so etwas wie eine Mutter für dich?«, fragte Emily.
Marie zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Als wir klein waren, haben wir sie kaum gesehen, wir haben damals in Bremen gewohnt, sie hier. Aber ich glaube, das war nicht der Grund, sondern sie verstand sich nicht gut mit meiner Mutter. Als wir zu ihr gezogen sind, war sie für uns am Anfang wie eine Fremde. Du hast sie ja selbst kennengelernt – sie wirkte auf den ersten Blick nicht gerade sehr herzlich, oder?«
»Ging so.«
»Aber wenn man sie besser kennt, merkt man, dass sie nur immer so barsch tut und in Wirklichkeit eine ganz liebe Frau ist – war«, verbesserte sich Marie mit einem traurigen Lächeln.
Sie blieben im Wald, bis es dämmerte, dann radelten sie gemächlich am Bahndamm entlang nach Hause.
Schon von Weitem war die Musik zu hören. Auf dem Feldweg hinter der Schranke parkten außer dem Fiesta von Maries Großmutter noch ein Twingo und ein
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