Waldesruh
fragte Marie. »Als das tot war?«
Moritz nickte.
»So ist das mit Oma. Sie ist gestorben, sie kommt nicht wieder.«
Nun fing Moritz an zu weinen. Trotz und Zorn waren binnen Sekunden einer tiefen Verzweiflung gewichen. Emily, der der Kleine eben noch schrecklich auf die Nerven gegangen war, weinte beinahe mit.
Sie warf Marie einen wütenden Seitenblick zu. Sie konnte ihre Freundin ja verstehen. Irgendwann musste Moritz die Wahrheit erfahren. Aber etwas schonender hätte sie es ihm doch beibringen können.
Andererseits erinnerte sie sich an die Zeit, als ihr Opa gestorben war. Sie war fünf oder sechs gewesen und ihre Eltern hatten ihr erzählt, er sei nun im Himmel und würde auf sie hinuntersehen. Von da an hatte sich Emily irgendwie beobachtet gefühlt, anfangs war sie sogar mit einem aufgespannten Regenschirm als Sichtschutz zur Toilette gegangen.
»War das nötig?«, zischte Janna über den schluchzenden Moritz hinweg ihrer Schwester zu. »Was, wenn er das rumerzählt?«
»Er muss es doch kapieren. Sonst begreift er nicht, warum ab sofort manche Sachen nicht gehen.«
Emily stand auf und kochte Kakao für Moritz. Das hatte ihre Mutter immer getan, als sie klein war. Heißer Kakao mit viel Zucker. Auch dieses Mal schien das Rezept zu helfen. Moritz beruhigte sich und schlürfte das Getränk. Dabei versuchten seine Schwestern, ihm die Situation zu erklären.
»Hör zu, Moritz«, sagte Janna. »Bis jetzt hat Oma für uns gesorgt, weil Mama sehr krank ist. Jetzt ist Oma tot...«
»Warum?«, unterbrach Moritz und sah schon wieder aus, als ob er in Tränen ausbrechen würde.
»Warum . . .«, überlegte Janna.
»Weil sie schon alt war und alte Leute sterben halt mal«, sagte Marie. »Du hast sie doch gesehen, wie sie im Garten gelegen hat. Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen. Das passiert, wenn man alt ist.«
Als Moritz erneut sein Gesicht verzog, fuhr Janna so sachlich wie möglich fort. »Also: Laut Gesetz dürfen Kinder nicht ohne Erwachsene leben. Frag mich jetzt nicht, warum, das ist eben so. Aber wir haben keinen Erwachsenen mehr, der für uns sorgt...«
In so einfachen Worten wie irgendwie möglich erklärten sie Moritz, was sie vorhatten, und konnten doch nur hoffen, dass der Kleine den Ernst der Lage verstand.
Er sah mit großen Augen von einem zum anderen und Emily dachte wieder einmal, dass es Wahnsinn war, was sie hier taten. Moritz war nur der Anfang, sie würden auch andere einweihen müssen – so viel war klar.
Unwillkürlich musste sie an Lennart denken, wie er sie im Eiscafé zum Abschied angelächelt hatte. Das war erst zwei Tage her, aber es erschien ihr wie eine Ewigkeit. Was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, was sie getan hatten?
Sie rief sich zur Ordnung. Warum dachte sie jetzt ausgerechnet an Lennart? Sie kannte ihn doch gar nicht.
»Aber Paul . . .«, jammerte Moritz jetzt gerade wieder.
»Wenn nun Paul hier übernachten soll, dann wird Pauls Mutter mit Oma sprechen wollen . . .«, sagte Janna geduldig.
»Warum?«
»Weil Mütter so sind. Sie wollen immer genau wissen, wen ihre Kinder besuchen, besonders über Nacht. Wenn nun Oma nicht da ist, dann wird Pauls Mutter fragen, wo sie ist. Dann wird alles rauskommen und dann kommt die Polizei und holt uns ab. Dich auch.«
»So wie Mama?«
Marie und Janna tauschten einen Blick über die Tischplatte hinweg. »Scheiße«, flüsterte Janna. »Ich dachte, das hätte er gar nicht mitgekriegt. Er war doch erst vier.«
»Ja«, sagte Marie zu ihrem Bruder. »Und du kommst in ein Heim und Janna und ich auch und wir sehen uns nie wieder. Deshalb darfst du niemandem erzählen, dass Oma tot ist. Hast du das jetzt verstanden?«
Moritz nickte.
»Was sollst du tun?«
»Ich soll nicht sagen, dass Oma tot ist«, wiederholte Moritz seine Lektion.
»Sehr gut«, lobte Janna. »Auch nicht Paul, auch nicht deiner Lehrerin – keinem Menschen, klar?«
»Und wenn der Mann wiederkommt?«
»Welcher Mann?«
»Der böse Mann.«
»Dann holst du mich oder Marie«, sagte Janna, nun ebenfalls leicht genervt.
»Okay. Und wann darf Paul übernachten?«
Die drei Mädchen sahen sich an. Es war eindeutig: Moritz war die Schwachstelle des ganzen Plans.
Der Steinbruch befand sich etwa fünf Kilometer hinter dem Dorf, mitten in einem Wald. Er wurde seit den Fünfzigerjahren nicht mehr benutzt und bildete einen nach Osten geöffneten Halbkreis, wie ein kleines Amphitheater. Bis dicht vor dem Abgrund wurde er von hohen Fichten gesäumt, am Fuß der
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