Waldesruh
sagte Janna zu Marie, die angewidert die Nase rümpfte, aber nicht widersprach.
Emily war nun endgültig der Appetit vergangen. »Ich hole mal die Zeitung rein«, sagte sie.
»Vielleicht finden wir schon sein Foto auf der Titelseite«, unkte Marie.
Emily zog die Zeitung aus der Röhre neben der Gartenpforte und blätterte sie durch. Nein, nichts von einem entlaufenen Häftling.
Plötzlich hörte sie hinter sich ein Hecheln und etwas Kaltes, Feuchtes berührte ihre Kniekehlen. Erschrocken fuhr sie herum. Vor ihr stand ein riesiger schwarzer Hund. Eine Frau keuchte auf einem Fahrrad heran.
»Hat er dich erschreckt? Das tut mir leid. Komm her, Ringo, bei Fuß! Guten Morgen, erst einmal!« Die Radfahrerin hatte ne ben Emily angehalten und nahm ihren Höllenhund an die Leine.
»Frau Kramp?« Emily riss die Augen auf. »Was machen Sie denn hier, so früh?«
»Da staunst du, was?«, lachte die Lehrerin. »Ich bin umgezogen, ich wohne seit drei Tagen drüben im Dorf.« Sie wies mit dem Daumen über ihre Schulter. »Und Ringo ist es gewohnt, um diese Zeit rauszugehen, auch in den Ferien.«
Emily kraulte den Hund hinter den Ohren, was dem Tier ein wohliges Brummen entlockte. »Der ist ja süß!«, entfuhr es ihr unwillkürlich, obwohl »süß« wohl nicht ganz der Ausdruck war, mit dem man diesen Koloss von Hund am besten beschreiben würde.
»Und warum bist du schon so früh auf?«, wunderte sich nun Frau Kramp.
»Weil... weil...« Emily zögerte und starrte Ringo an. Ihr war ein Einfall gekommen. Würden die anderen einverstanden sein? Es blieb keine Zeit, sie zu fragen. Nein, das hier war ihre Chance!
Sie holte tief Luft. »Wir haben ein kleines Problem«, sagte sie. »Marie hat gestern Abend einem Obdachlosen erlaubt, hier zu übernachten. Leider werden wir ihn jetzt nicht mehr los. Er nimmt uns einfach nicht ernst.«
Frau Kramp runzelte die Stirn. »Aber was ist denn mit Maries Großmutter?«
»Die ist für ein paar Tage zu ihrer Schwester nach Hamburg gefahren, weil die sich ein Bein gebrochen hat. Wir haben ihr versprochen, dass wir schon klarkommen, und das tun wir ja auch. Wenn sie erfährt, dass Marie diesen Mann ins Haus gelassen hat, dann regt sie sich fürchterlich auf.« Sie räusperte sich. »Deswegen konnten wir auch nicht die Polizei holen. Sonst kriegt Marie richtig Ärger.«
»Ich verstehe.« Frau Kramp schüttelte den Kopf. »Auch wenn das ziemlich dumm von euch war, vor allem von Marie. Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut.«
»Wem sagen Sie das?«, seufzte Emily und war erstaunt, wie leicht ihr die Lügen über die Lippen gekommen waren.
»Nun, ich kann gegen so einen Kerl wohl auch nicht allzu viel ausrichten«, sagte Frau Kramp und Emily wurde vor Enttäuschung ganz flau. »Aber ich denke, Ringo wird das Problem lösen, nicht wahr?« Maja Kramp beugte sich zu ihrem Hund und flüsterte: »Ringo, da drin ist ein Gauner!«
Bei diesem Wort wurde der Riesenschnauzer gleich noch ein Stückchen riesiger und sein Nackenfell verwandelte sich in eine Bürste. Frau Kramp stellte ihr Fahrrad ab und folgte Emily ins Haus, wobei sie von Ringo durch den Garten gezogen wurde.
Der Fremde thronte am Frühstückstisch und biss gerade herzhaft in ein Wurstbrot, als Frau Kramp ihn mit einem so kalten Ton, wie ihn die Mädchen noch nie an ihr gehört hatten, ansprach: »Ihr Aufenthalt hier ist nicht mehr erwünscht. Bitte verlassen Sie auf der Stelle das Haus!«
Der Mann drehte sich um und blickte mitten in ein schwarzes, haariges Gesicht. Ringo hatte die Lefzen hochgezogen und stellte seine kräftigen Eckzähne eindrucksvoll zur Schau. Dazu ließ er ein dumpfes, kehliges Knurren hören.
»Der will sicher nur spielen«, bemerkte Marie. Auch Emily musste zugeben, dass sie eine aufrichtige Schadenfreude empfand, als sie nun zusah, wie der Mann mit sparsamen, ängstlichen Bewegungen aufstand. Ringos Knurren wurde aggressiver, es sah aus, als würde er ihm nur allzu gerne an die Kehle springen, falls man ihn nur endlich von der Leine lassen würde... Eskortiert von Maja Kramp, Ringo und Janna trat der Eindringling den Rückzug an.
»Mein... mein Rucksack«, stotterte er unter der Tür.
»Hol ihn«, sagte Janna zu Emily.
Emily holte das Gepäckstück, warf aber vorher noch kurz einen Blick hinein: Kleidung, ein Klappmesser, ein Handy. Demnach hatte er wohl nichts gestohlen. Besaßen Obdachlose Handys?, fragte sich Emily, aber nun, da er endlich ging, war das ja auch egal.
Der kleine Trupp war schon an
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