Waldesruh
das Gefühl des freien Falls, das andere großartig finden mochten. Für Emily waren es die schrecklichsten Augenblicke ihres Lebens gewesen, vom Aufprall ganz zu schweigen. Wasser konnte ja so unglaublich hart sein! Aber da war auch dieses Gefühl des Triumphes gewesen, als sie mit wackeligen Beinen und brennender Haut aus dem Becken gestiegen war.
Heldin für einen Nachmittag...
»Also, was ist jetzt?«, fragte Marie ungeduldig.
»Gib her!« Emily griff nach der Waffe. Marie reichte ihr zwei Patronen, dann brachten sich die beiden Schwestern hinter ihr in Sicherheit.
Emily beschloss, gar nicht erst zu versuchen, die Dose zu treffen. Sie würde einfach nur schießen, basta. Mit zitternden Fingern schob sie die zwei schweren Plastikzylinder, die die bleiernen Schrotkörner enthielten, in die Läufe.
Waffe schließen, zielen, entsichern, Schuss. Schaft dicht heranziehen, dachte sie noch, als der Schuss krachte. Der Rückstoß war immens und warf sie tatsächlich beinahe um.
»Getroffen! Treffer!«, jubelte es hinter ihr, allerdings hörte sie die Stimmen nur gedämpft. Es rauschte und summte in ihrem rechten Ohr, bestimmt war sie schwerhörig geworden.
»Tatsächlich?«, fragte Emily und rieb sich das Schlüsselbein. Die Dose war fort. Sie grinste und wandte sich um. »Das hätte ich gar nicht...«
»SICHERN!«, brüllte Marie und warf sich in den Staub.
Zutiefst erschrocken ließ Emily das Gewehr sinken und schob den Sicherungshebel herum. Ihr Magen schlug einen Purzelbaum.
»Kannst du nicht bis zwei zählen?«, fuhr Marie sie an. »Du hättest uns fast erschossen!«
Emily wurde leichenblass, gleichzeitig ärgerte sie sich über Maries rüden Ton. Schließlich war diese blöde Schießübung nicht ihre Idee gewesen. Sie legte die Flinte auf den Boden und verkündete: »Mir reicht’s. Ich fass das Ding nie wieder an.«
»Entschuldige«, sagte Marie. »Ich bin nur total erschrocken.« »Ich auch. Tut mir leid.« Emily zitterten noch immer die Knie und auch Janna stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben.
Sie griff nach dem Rucksack. »Ehe wir uns noch gegenseitig umbringen, fahren wir lieber nach Hause.«
»Wir brauchen einen Hund«, sagte Marie, nachdem sie Moritz
abends ins Bett gebracht hatten.
»Wieso?«, fragte Janna.
»Du hast doch gesehen, wie nützlich der Hund von Frau Kramp gewesen ist.«
»So ein Riesenvieh? Der frisst uns arm.«
»Dann eben einen kleineren.«
»Solange du keine wildfremden Männer ins Haus lässt, nur weil sie dir irgendwas vorjammern, brauchen wir auch keinen Hund.«
»Aber wir wollten doch schon immer einen«, erwiderte Marie trotzig. »Nur Mama hat es verboten und Oma auch, aber jetzt...«
Janna seufzte tief: »Was ist, wenn wir wieder zur Schule gehen? Dann ist er stundenlang allein.«
»Er kann ja in den Garten. Wir bauen ihm eine schöne Hütte.«
»Ein Hund wird zehn, zwölf Jahre alt. Was ist, wenn wir auffliegen? Dann kommt er ins Tierheim, willst du das? Ein Hund ist kein Spielzeug, das man zurückgibt, wenn man’s nicht mehr gebrauchen kann. Das ist ein Lebewesen, das fühlen und leiden kann, dafür trägt man Verantwortung.«
»Du redest genau wie Oma!«
»Ja und?«, entgegnete Janna ärgerlich. »Dann rede ich halt wie Oma. Sie hatte schließlich recht.«
»Schwachsinn. Du hast nur Schiss vor Hunden!«
»Das ist nicht wahr! Ich mag nur manche nicht. So Kläffer oder Kampfhunde. Den von Frau Kramp fand ich gut, nur ein bisschen groß. Leih dir doch den ab und zu aus, wenn du unbedingt einen Hund haben musst. Wir brauchen keinen Wachhund, wir haben das Gewehr.«
Seit der Schießübung lag es oben auf dem Kleiderschrank in Maries Zimmer – außer Sicht-und Reichweite von Moritz. So hofften sie jedenfalls. Die Munition war in Jannas Schreibtisch eingeschlossen.
Emily verfolgte schweigend den Streit der Schwestern. Hörte denn das nie auf? Sie war es langsam leid. Dieses Mal war es der Hund, ein andermal waren es Hausarbeiten, dann die Designerjeans, die Janna sich gekauft hatte, während Marie keine Puma-Sportschuhe haben durfte, angeblich, weil man sich nicht dem Marken-Terror unterwerfen müsse.
Das Telefon klingelte. Vielleicht ist es für mich, dachte Emily. Lennart. Und gleich darauf: Quatsch. Wieso sollte er sie anrufen, nur weil sie ihm eine Skizze auf einem Bierdeckel geschenkt hatte?
»Soll ich rangehen oder ist das wieder Axel?«, fragte Marie.
»Der ruft mich auf dem Handy an.«
Es klingelte wieder.
»Das werden meine Eltern sein«,
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