Waldesruh
der Gartenpforte, Emily warf dem Fremden den Rucksack hinterher. Der hob ihn auf und stolperte fluchend davon.
»Beeilen Sie sich«, rief Janna. »In zwei Minuten lassen wir den Hund los!«
Das veranlasste den Mann, seine Gangart zu beschleunigen, er rannte über die Gleise, den Feldweg entlang, als sei Ringo schon hinter ihm her. Dann war er hinter dem mannshohen Mais verschwunden.
Marie holte tief Luft und strich sich ihre Locken zurück. »Vielen Dank«, sagte sie und es klang ganz zerknirscht. »Da habe ich wirklich Mist gebaut.«
Frau Kramp blickte sie von der Seite an, aber statt der Ermahnungen und Vorwürfe, die alle erwartet hatten, kam nur ein herzliches »Bedanken müsst ihr euch nicht bei mir, sondern bei Ringo. Er hat schließlich ganze Arbeit geleistet.« Sie kniete sich nieder, um ihren Hund zu kraulen.
»Moment!« Emily rannte ins Haus und kam mit ein paar Scheiben Salami wieder. »Darf er die haben? Zur Belohnung?«
Frau Kramp nickte und die Salamischeiben verschwanden im riesigen Schlund von Ringo, der nun wieder ein ganz freundlicher Hund war und sich von den Mädchen streicheln ließ.
»Seid ihr sicher, dass ihr klarkommen werdet?«, erkundigte sich Frau Kramp.
»Ja, bestimmt. – Absolut«, versicherten Janna und Marie. Und Janna fügte hinzu: »Wir rufen nachher Oma an, ob sie wie geplant am Freitag zurückkommt. Sie hat ja schon den Zug gebucht.«
»Soll ich morgen noch mal nach euch sehen?«, fragte Frau Kramp. »Ich mach das gerne.«
»Das ist wirklich nicht notwendig. Marie hat ihre Lektion gelernt.«
»Ja, es ist alles okay. Sie müssen sich bestimmt keine Sorgen machen.«
»Wenn was ist, ruft mich an. Ich stehe im Telefonbuch«, sagte Frau Kramp, offenbar noch nicht so ganz überzeugt. »Jetzt muss ich aber weiter. Ringo muss noch sein Geschäft machen.« Frau Kramp stieg auf ihr Rad und trat energisch in die Pedale. Die Mädchen winkten ihr und dem Hund nach.
Janna runzelte die Stirn. »Ob sie was gemerkt hat?«
»Ich glaube nicht«, sagte Emily und fragte: »Was hast du vorhin gemeint, als du gesagt hast, wenn er nicht geht, müssten wir Maßnahmen ergreifen?«
»Ach, nichts.«
Aber Marie kannte ihre Schwester besser. »Los, rück schon raus damit.«
Janna seufzte. »Also gut. Kommt mit.«
Sie folgten Janna, die durch das hohe Gras stapfte, wobei sie sagte: »Wir müssen unbedingt den Rasen mähen, Marie. Es darf hier nicht so verwahrlost aussehen, das fällt sonst auf.«
»Wieso sagst du das mir, seh ich aus wie der Gärtner?«
»Irgendjemand muss es schließlich machen«, antwortete Janna und übersah, wie Marie hinter ihr den Mittelfinger reckte. Sie öffnete die Tür zum Holzschuppen und räumte eine Zinkwanne, einen Eimer, einen Hackstock und den Gartenschlauch beiseite. An der Wand über einer Werkbank hingen ordentlich aufgereiht Schraubenschlüssel, Schraubenzieher, eine kleine Säge und noch etliche Gerätschaften, deren Bezeichnung und Zweck Emily nicht kannte. Janna nahm einen Hammer und den größten Schraubenzieher. Sie kniete sich auf den Boden, setzte den Schraubenzieher an die Kante einer Diele und schlug mit dem Hammer sanft auf den Griff. Das Brett löste sich. Zum Vorschein kam ein länglicher Hohlraum, in dem etwas lag, das in ein altes Handtuch eingewickelt war. Janna packte es aus. Ein Gewehr. Genauer: eine doppelläufige Schrotflinte.
Emily und Marie starrten erst die Flinte an, dann Janna, die aufstand und sich den Staub von den Jeans klopfte. »Die stammt noch vom alten Holtkamp«, erklärte sie, die Waffe in der Hand.
»Von wem?«, fragte Emily begriffsstutzig.
»Von Omas Mann, unserem Großvater. Sie hat ihn immer nur den alten Holtkamp genannt. Ich glaube, er hieß Franz.«
»Und damit wolltest du den Kerl erschießen?«, fragte Marie.
»Quatsch. Ihn bedrohen. Leider ist mir das erst heute Morgen eingefallen. Oma hat mir das Versteck mal gezeigt. ›Für alle Fälle‹, hat sie gesagt und ich musste ihr versprechen, dir nichts zu sagen und natürlich erst recht nicht Moritz«, erklärte Janna. »Ich schlage vor, wir nehmen das Ding ins Haus. Nur für den Fall...«
Es kam kein Widerspruch. Der Besuch des Fremden hatte bei allen ein schales Gefühl der Unsicherheit und Verwundbarkeit hinterlassen. Auch wenn sie es nicht aussprachen, so spürten sie instinktiv, dass mit diesem Mann etwas nicht gestimmt hatte. Was hatte er wohl auf dem Dachboden gesucht, grübelte Emily. Jetzt, wo sie sich das Bild des Fremden noch einmal ins Gedächtnis
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