Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Waldesruh

Waldesruh

Titel: Waldesruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Mischke
Vom Netzwerk:
rief, fielen ihr ein paar Dinge auf: seine Zähne. Leu te, die auf der Straße lebten, hatten für gewöhnlich kein Geld für den Zahnarzt und entsprechend schlechte Zähne. Die des Fremden waren aber ziemlich in Ordnung gewesen, nur etwas gelb, vom Rauchen. Emily hatte sein Grinsen noch deutlich vor Augen. Dann die Hände: Sie waren schmutzig gewesen, vor allem unter den Fingernägeln, aber da waren keine Schwielen, keine Schrammen, die Haut war nicht aufgeraut...und das bei einem Menschen, der angeblich draußen lebte?
    »Gibt’s auch Munition?«, erkundigte sich Marie.
    Janna ging zu der Werkbank, griff nach einem Schlüssel, der dort auf der Hinterseite an einem Haken hing, und öffnete damit eine der vier Schubladen, die seitlich unter der Platte der Werkbank angebracht waren. Darin lagen vier Kisten mit Schrotpatronen in verschiedenen Farben.
    »Mann!«, sagte Marie. »Damit können wir ja einen kleinen Krieg anzetteln.«
    Emily fuhr zögernd mit der Hand über das kühle, glatte Holz des Schaftes. Noch nie hatte sie eine Schusswaffe aus nächster Nähe gesehen. Es ging eine gewisse Faszination davon aus, wie sie zu ihrem Erstaunen feststellen musste, auch wenn ihr die Waffe Angst machte.
    »Könnt ihr denn damit umgehen?«, fragte Emily.
    »Nein«, antworteten Janna und Marie. »Aber es wird schon nicht so schwierig sein«, fügte Marie hinzu. »Gib mal her.«
    Janna reichte ihrer Schwester die Waffe, Emily wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Marie betätigte einen Hebel, die Flinte klappte in der Mitte auseinander. Marie studierte eine Weile die Mechanik.
    Emily kannte das schon von Marie: Sie brachte sich die Dinge selbst bei, durch Beobachtung, durch Ausprobieren und vor allen Dingen durch logisches Denken: Wofür könnte dieser oder jener Hebel wohl gut sein? Was passiert, wenn ich hier schiebe, ziehe, drücke? In Maries Zimmer hingen anstatt Tokio-Hotel-Poster Drucke der Konstruktionszeichnungen von Leonardo da Vinci. Für Emily waren die Skizzen wirr und rätselhaft, aber Marie konnte erklären, wie das Flugboot, der Fallschirm, das federgetriebene Auto und auch der Panzer, den das Genie entworfen hatte, funktionierten.
    Nachdem sie sich ein paar Minuten lang mit dem Gewehr beschäftigt hatte, sagte sie: »Es ist ganz simpel. Hier macht man es auf, die Patronen kommen da rein, dann klappt man es zu und kann schießen. Vorher muss man natürlich noch die Sicherung lösen. Schaut her: So ist sie offen, so geschlossen. Das dürfte alles sein. Wir sollten ein bisschen damit üben«, fügte sie ernst hinzu.
    Emily erschrak und fragte: »Was denn, schießen?«
    »Nein, in der Nase bohren«, versetzte Marie. »Klar schießen, was denn sonst? Man kann nie wissen, wann man’s braucht. Genügend Patronen haben wir ja.«
    »Wir können in den Steinbruch gehen«, sagte Janna, der die Idee offensichtlich gefiel. Sie sah auf die Uhr. »Verdammt, Moritz! Ich muss ihn abholen, die Mutter von diesem Paul wartet sicher schon. Marie, schaff die Flinte irgendwohin, wo sie der kleine Satansbraten nicht findet.«
    Am Abend dieses Tages war Moritz völlig aufgedreht und verlangte, dass sein Freund Paul bei ihm übernachten dürfe. Janna sollte Pauls Mutter deswegen anrufen.
    »Heute nicht. Ein anderes Mal«, sagte Janna, die mit ihm an der Spüle stand und versuchte, mit Handtuch und Seife die Kriegsbemalung der Irokesen aus seinem Gesicht zu entfernen.
    »Das sagst du immer!«, protestierte Moritz. »Ich will aber, dass Paul heute kommt.«
    ›Ich will‹ gibt’s schon gar nicht«, sagte Marie, die am Küchentisch lümmelte. Die Mädchen waren müde, die vergangene Nacht steckte allen noch in den Knochen.
    »Aua!«, schrie Moritz, als Janna zu heftig an seiner Wange rubbelte.
    »Das Zeug muss runter! Warum malt ihr euch auch so blödsinnig an?«
    »Das ist nicht blöd, wir sind Indianer, du bist blöd«, heulte Moritz und trat nach Jannas Schienbein. Die wich ihm aus und packte ihn am Kragen. »Mach das nicht noch mal!«
    »Oma! Wo ist Oma? Ich will zu Oma!«, brüllte Moritz und schlug wild um sich.
    »Hör auf damit«, sagte Marie ruhig und ohne den Kopf vom Ellbogen zu heben. »Du kannst nicht zu Oma. Oma ist tot.«
    Moritz unterbrach seinen Tobsuchtsanfall und riss die Augen auf. Janna zog scharf die Luft ein. Bis jetzt waren sie Moritz’ Fragen immer ausgewichen, hatten ihm erzählt, dass Oma im Garten gestürzt und nun eine Weile nicht da sei.
    »Du erinnerst dich an dein Meerschweinchen letztes Jahr?«,

Weitere Kostenlose Bücher