Waldesruh
Unbekannten zu lösen, die sie einfach nicht schaffte. Dabei wusste sie im Traum, dass dies ihre Prüfung war. Ohne das Lösen der Gleichung würde sie nach Hause geschickt werden. Als Lennart gerade am prasselnden Lagerfeuer eine schwedische Blondine abknutschte, erwachte Emily und setzte sich ruckartig auf. Das war ein Fehler, denn Emilys provisorisches Gästebett stand unter der Dachschräge.
Es rumste, als ihr Kopf gegen die Holzverkleidung stieß, und
ohne es zu wollen, stöhnte Emily laut: »Aua, verdammt!«
»Was ist denn los?«, tönte es verschlafen aus Maries Ecke.
»Ich hab schlecht geträumt und mir den Kopf gestoßen«, flüsterte Emily.
Marie nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die auf dem Nachtschränkchen stand, und fragte: »Was hast du denn geträumt?«
»Irgendwas von Mathe.«
»Du Ärmste«, kicherte Marie. Dann war es still, die Mädchen versuchten, wieder einzuschlafen. Im Haus knackte es und irgendwo schepperte ein Fensterladen. Draußen musste Wind aufgekommen sein.
»Was war das?«, fragte Marie in das Dunkel.
»Was?«
»Da hat was geknirscht.«
»Hier knirscht doch immer irgendwas«, antwortete Emily.
»Sei doch mal ruhig!«, zischte Marie, aber nun wurde es Emily zu bunt: »Ich bin ruhig. Du redest die ganze Zeit!«
»Pscht!«
Emily schwieg beleidigt, aber dann hörte sie es auch: Das Ächzen der Bodendielen im Erdgeschoss. Kein Zweifel: Dort unten ging jemand.
»Das sind Schritte«, hauchte Marie kaum hörbar und glitt aus ihrem Bett. Emily tastete nach der Taschenlampe, knipste sie kurz an und leuchtete in Maries erschrockenes Gesicht.
Sie rappelte sich auf. »Ich geh mal nachsehen. Bestimmt ist es nur Janna.« Es kam öfter vor, dass Janna tagsüber Diät hielt und nachts über den Kühlschrank herfiel. Emily machte die Lampe wieder aus, ging zur Tür und öffnete sie leise. Sie hätte sich die Mühe sparen können, denn gerade kündigte sich das Grollen und Rumpeln eines Güterzuges an. Der Lärm schwoll rasch an, der Boden bebte, und obwohl es keinen Sinn machte, wartete Emily den Zug ab, ehe sie sich weiter über den Flur tastete. Sie war im Begriff, den Lichtschalter zu betätigen, als unten das Licht anging. Was Emily sah, ließ ihr Herz aussetzen.
Ein schwarz gekleideter Mann mit einer Kapuze über dem Kopf stand im Wohnzimmer und hielt eine Pistole in der Hand. Der Lauf zeigte auf Janna, die im Schlafanzug und mit einer Tüte Gummibärchen in der Hand vor ihm stand und ihn panisch anstarrte. Jetzt wandte der Mann den Kopf in Emilys Richtung. Sie wich zurück, aber er hatte sie schon entdeckt. »Du da, komm da runter!«
Emily sah nun, dass er keine Kapuze, sondern eine Sturmhaube trug, die nur einen Schlitz für die Augen freiließ.
»Komm da runter, sag ich! Los!«
Emily hatte das Gefühl, vor Angst zu zerspringen. Sie zitterte am ganzen Körper und ihre Knie fühlten sich an, als könnten sie jeden Moment unter ihr einknicken wie Strohhalme. War das die Stimme des Landstreichers, fragte sie sich, während sie widerstrebend und langsam die Treppe hinunterstolperte. Sie war so verstört, sie vermochte es nicht zu sagen. Verängstigt stellte sie sich neben Janna vor das Bücherregal.
Der Mann richtete seinen Augenschlitz wieder auf Janna. »So, Madame, jetzt ist Schluss mit lustig«, kündigte er an. »Her mit dem Bild!«
»Was für ein Bild?« Jannas Stimme klang gehetzt.
»Du willst mich wohl verarschen, was?« Er ging auf sie zu und packte sie am Arm.
»Aua! Loslassen, verdammt!«
Im selben Moment hörte man ein Geräusch. Ein helles Wimmern. Es kam von der Treppe. Der Mann ging mit raschen Schritten zu der Besenkammer unter der Treppe, deren Tür einen Spalt offen stand. Er bückte sich und zog den jammernden Moritz zwischen den Putzeimern hervor.
»Na, wen haben wir denn da?« Er hielt Moritz mit der freien Hand fest. Der begann sich zu winden und wild zu zappeln, wobei er versuchte, dem Angreifer gegen das Schienbein zu treten.
»Lass das!«, herrschte der Mann ihn an. Er hielt ihn vor seinem Körper, presste ihm seinen linken Unterarm gegen den Hals und den Lauf der Pistole gegen die Schläfe des Jungen. Der wagte vor lauter Angst nicht mehr, sich zu bewegen.
»Lassen Sie ihn los!«, kreischte Janna.
»Ich werde ihm den Kopf wegpusten, wenn du mir nicht auf der Stelle sagst, wo das Bild ist.«
»Welches Bild denn?«, rief Janna verzweifelt.
Moritz gab einen erstickten Laut von sich und zerrte am Unterarm des Mannes, der ihm offenbar die
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