Waldesruh
Luft abschnürte.
»Lassen Sie ihn los und legen Sie die Waffe weg«, ertönte eine schrille Stimme von oben. Der Mann hob den Kopf und schaute direkt in die Läufe der Schrotflinte. Doch anstatt der Aufforderung nachzukommen, schob der Mann den Schlitten der Pistole zurück und erwiderte: »Wenn du nicht sofort das Ding weglegst, stirbt dein Bruder.«
Emily fühlte, wie alles vor ihren Augen verschwamm. Die Stimme des Mannes klang so, als ob er es ernst meinte. Als ob er tatsächlich seine Drohung wahr machen würde.
»Ich zähle bis drei«, kam es nun von dem Fremden.
»Eins, zwei... drei...«
Ein Schuss ließ das Zimmer explodieren.
Emily sah, wie der Mann zwei Meter durch die Luft geschleudert wurde und zwischen dem Sessel und dem Bücherregal aufschlug. Im selben Moment hatte sich Janna auf Moritz gestürzt, die beiden lagen am Boden, Moritz weinte und Janna sagte immerzu: »Bist du okay, bist du okay?«
Dies hörte Emily nur leise, wie durch einen Berg Watte gedämpft. Sie wagte einen Blick hinter den Sessel, schaute aber sofort wieder weg. Dennoch, das Bild, was sich ihr bot, würde sie nie vergessen.
Die Maske war völlig zerfetzt – die Schrotsalve hatte den Mann voll getroffen. Noch nie in ihrem Leben hatte Emily etwas so Grauenhaftes gesehen.
Marie kam langsam die Treppe herunter, Schritt für Schritt, als würde sie schlafwandeln. Emily wollte sie vor dem Anblick warnen, brachte aber keinen Laut über die Lippen. Sie fühlte sich, als ob alles in Zeitlupe ablief, als ob das, was Marie getan hatte, alles zum Stillstand gebracht hatte.
Auf dem Fußboden breitete sich eine Blutlache aus. Auch auf den Büchern und an der Wand über dem Regal bis hinauf zur Decke sah man Spritzer. Die Pistole war dem Mann aus der Hand gefallen, sie lag unter dem Schreibtisch.
Janna rappelte sich auf und brachte den schluchzenden Moritz in die Küche. Marie hatte die Flinte auf den Treppenabsatz gelegt und sich danebengesetzt. Sie sah aus wie immer, nur ihr Blick war nach innen gerichtet, als fragte sie sich, was eigentlich passiert war.
Emily griff unwillkürlich nach der Pistole und legte sie in eines der oberen Regale. Immer mehr Blut floss nun immer rascher über den Fußboden, es war geradezu erstaunlich, wie viel Blut sich in einem Menschen befand.
Plötzlich stand Marie neben Emily. »Wir müssen ihn auf den Teppich legen und rausschaffen«, sagte sie mit rauer Stimme. »Ich kann den nicht anfassen«, schrie Emily völlig außer sich.
Marie sah sie an. »Bitte«, sagte sie und ihre Stimme zitterte kaum hörbar. »Bitte, Emily. Hilf mir.« Emily spürte, mehr als sie sah, wie Marie schwankte. Sie trat vor und nahm ihre Freundin fest in die Arme. »Ist ja gut, ich helfe dir«, flüsterte sie.
Marie löste sich von ihrer Freundin. Ihr Blick war klar, sie hatte sich wieder im Griff.
Im Nachhinein wusste Emily nicht mehr, woher sie die Kraft und die Überwindung genommen hatten. Vermutlich stand nicht nur Marie, sondern auch sie selbst unter Schock, vielleicht trug die extreme Situation dazu bei, Skrupel auf später zu verschieben und verborgene Kräfte zu mobilisieren. Zuerst zogen sie ihre Gummistiefel an, dann zogen sie den Teppich unter dem Couchtisch hervor und wateten damit durch das Blut zu dem Leichnam. Sie zerrten ihn auf den Teppich. Emily bemühte sich, den grässlich zugerichteten Kopf des Toten dabei nicht anzusehen, was nicht gelang.
Anschließend ließ Janna ihren kleinen Bruder für einen Augenblick allein in der Küche und half den beiden, den Körper aus dem Haus zu tragen und auf die Schubkarre zu laden. Sie schoben sie bis hinter den Holzschuppen. Als sie durch den Garten gingen, dachte Emily daran, wie sich die Ereignisse auf grausame Weise wiederholten.
Moritz hatte sich inzwischen wieder beruhigt, nachdem alle drei Mädchen ihm versichert hatten, dass der böse Mann nie mehr zurückkehren würde. Diese Auskunft zauberte sogar ein freudiges Grinsen auf sein Gesicht.
»Hat Marie den bösen Mann totgeschossen?«
»Ja«, bestätigte Janna.
»Cool«, meinte Moritz und schon im nächsten Moment hatte er wieder andere Sorgen: »Meine Ohren«, jammerte er. »Die brummen so!«
»Meine auch. Das kommt von dem Knall. Das hört bald wieder auf«, versprach Janna.
Janna kochte Tee, eine Kanne nach der anderen, und obwohl die Nacht lau war, saßen sie zitternd am Küchentisch. Schließlich schlief Moritz in Jannas Arm ein und sie schleppte ihn nach oben in sein Bett.
»Hoffentlich erzählt er
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