Waldos Lied (German Edition)
vor Morgengrauen. Keiner der Brüder schlief mehr als vier Stunden pro Nacht.
Dennoch schien jeder der Brüder seine Arbeit mit Freude zu tun. Es gab nur selten Mönche, die wegen mangelnder Disziplin bestraft werden mussten. Und dann waren es auch eher geringe Bußen wie Fasten, das Singen von Psaltern oder Schweigen. Fruttuaria war ein wunderbarer Ort. Es tat meiner Seele gut, durch die hohen, stillen Mauern zu wandeln. Das größte Wunder aber war für mich die riesige Bibliothek, die so viele Schriften barg, wie ich sie noch niemals gesehen hatte. Wann immer ich mich freimachen konnte, war ich dort. Ich las Vergil und Horaz, erfuhr vom Wirken der Heiligen und den Wundern, die sie taten. Es gab aber auch Abschriften der Werke der großen griechischen Dichter der Antike wie Aeschilos, die Lehren des Pythagoras, des Diogenes und des Sokrates.
Manche Schriften waren allerdings den gewöhnlichen Mönchen verboten, denn es waren Werke über die Kunst der Schwarzen Magie und der Teufelsanbetung, darüber, wie aus Blei Gold gemacht werden könne, über die geheime Bedeutung der Zahlen, die Zukunftsdeutung oder die Gebräuche der heidnischen Druiden. Ich fand dort auch die Sage über einen König namens Artus und den Heiligen Gral. Dann war da noch ein anderer wunderbarer Ort: die stille und ehrwürdige Krypta des Klosters mit einem Mosaik, das zwei geflügelte Tiere mit langen Schwänzen inmitten von Blumen zeigte, umsäumt von Ornamenten.
So glitten die Tage dahin zwischen Gebeten, Arbeit und auch frohen Stunden. Bald fühlte ich mich in Fruttuaria geborgen und daheim.
»Waldo, warte, hier gibt es jemanden, der dich zu sprechen wünscht.« Die Stimme meiner Herzogin hielt mich zurück, als ich nach dem Mittagsgebet in der Kirche wieder zu meiner Arbeit im Scriptorium zurückeilen wollte. Ich wandte mich nach ihr um. Sie stand mit ihren beiden Töchtern neben einer fremden Fürstin am Portal der Kirche. Ich ging den kurzen Weg zurück. Noch im Gehen erkannte ich jedoch die neue Besucherin des Klosters wieder. Es war Agnes von Burgund, die Witwe Kaiser Heinrichs. Ich beugte meine Knie vor der hohen Frau, mit Dankbarkeit erfüllt für das, was sie für das Kloster St. Blasien und meine Herzogin Adelheid getan hatte. Agnes von Burgund neigte lächelnd den Kopf zur Begrüßung und bedeutete mir dann freundlich, mich wieder zu erheben.
»Ihr seid also Waldo von St. Blasien, Mönch und vorzüglicher Ratgeber meines früheren Eidams Rudolf. Ja, ich erinnere mich, ich sah Euch schon einmal im Gefolge meines Schwiegersohnes bei Hofe. Wart nicht Ihr es, der bei der Schwertleite meines Sohnes eine ärgerliche Situation zu einem guten Ende brachte? Mir wurde von verschiedener Seite berichtet, Ihr wärt zwar kein, aber mit einem großen Herzen gesegnet.« Sie musterte mich noch einmal von oben bis unten. »Doch Ihr kommt mir nicht gar so klein vor.«
»Das ist zuviel der Ehre, hohe Frau. Ich bin nur ein einfacher Mönch, dem durch die Gnade des Herrn mehr Glück als Verstand beschert wurde«, antwortete ich. »Und was meinen Körper betrifft — nun, das sind die guten Folgen eines scheußlichen Überfalls, bei dem mir die Beine gebrochen wurden.«
Das Gesicht von Agnes von Burgund wurde ernst. »Ich hörte davon«, meinte sie kurz. »Herzogin Adelheid berichtete mir, dass Ihr dazu auserwählt wurdet, die Regeln des heiligen Benedikt nach der Lehre von Fruttuaria in die Abtei St. Blasien zu bringen. So muss es doch wohl einige Menschen geben, die viel von Euren Gaben halten. Außerdem versteht Ihr es, die Herzen der Kinder zu gewinnen. Das ist wahrlich mehr, als die meisten Männer vermögen, die ich kenne.«
Agnes von Burgund lachte erneut, als sie merkte, dass ich vor Verlegenheit nichts sagen konnte. »Nun, etwas gesprächiger werdet Ihr wohl schon werden müssen, Waldo von St. Blasien. Denn ich erwarte von Euch Auskunft über Euer Kloster, aber auch darüber, was Ihr über die politische Lage des Reiches wisst, dessen Regentin ich einmal war. Man kann nie zu viele Meinungen hören. Aber ich denke, hier ist nicht der richtige Ort und auch nicht die richtige Zeit. Wir sind soeben erst in Fruttuaria eingetroffen, und unser guter Vater Abt Adelbert und ich haben nach meiner langen Abwesenheit einiges zu besprechen. Habt also die Güte und besucht mich morgen um diese Zeit im Rosengarten des Klosters. « Damit entließ sie mich und wandte sich wieder den anderen zu. Zu dem Mordversuch an mir und dem Überfall sagte sie kein
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