Walhall. Germanische Goetter- und Heldensagen
als Hertnit seines Herrn Geschenke darbieten liess – Purpur, feine Leinwand, zwei goldene Tischbecher, ein Zelt aus goldumsäumter Seide –, antwortete er: "Um Geld und Gaben erkauft ihr meine Tochter nicht; eine Dienstmagd will ich euch dafür geben." – Nun überreichte Hertnit Oserichs Brief. Als aber der König den gelesen hatte, sprach er zornig: "Hochmütig ist Oserich, da er wähnt, meine Tochter und meine Freundschaft durch übermütige Reden oder Drohungen zu erlangen. Sechs seiner Boten schmachten deshalb schon im Kerker; werft nun auch sein Bruderskind samt dessen Gefährten hinein."
Und so geschah’s.
Weit durchs Land flog bald die Kunde, dass Hertnit im Kerker liege, flog bis zu König Oserich. Da schickte er den in Blut getauchten Pfeil durch sein ganzes Reich und entbot jeden Mann, der Schwert schwingen, Schild tragen oder Bogen spannen konnte. Zehntausend Reiter und dreitausend Fussmannen scharten sich zusammen, unter ihnen auch Aspilian und seine Brüder.
Als der König mit diesem Heere in Milias’ Land kam, nannte er sich Dietrich. Friedlich fuhr er, tat niemand ein Leides an; überall bot man den Heerleuten zum Kaufe, was sie bedurften. So kamen sie vor die Hauptburg und trafen König Milias von grosser Volksmenge umgeben. Oserich bat um Einlass in die Königsstadt, der wurde ihm gewährt. "Heil dir und deinen Mannen!" grüsste er gütig Milias auf dem Hochsitz; Oda sass ihm zur Seite. "Heil dir, wer bist du und was willst du von mir?"
"Dietrich heiss’ ich und war Herzog in Wilkinenland; aber Oserich hat mich vertrieben; nun will ich dir meine Dienste anbieten."
"Guter Held, du scheinst mir ein tüchtiger Mann; fahre heim, versöhne dich mit deinem Herrn; ihm hast du zu dienen."
Bittend umfasste Oserich des Königs Knie, der aber fuhr fort: "Ein grosses Heer hast du in mein Land geführt; würdest du nun mein Mann und wir gerieten einmal in Streit, fielen eher alle meine Mannen, bevor ich euch bezwänge." Darauf sprach Oda: "Warum willst du mich nicht dem König Oserich zum Weibe geben, der so mächtig ist, dass er solchen Häuptling vertreiben konnte? Und mich dünkt; schon dieser hier gewänn’ all dein Land mit dem Schwert, wollte er Kampf anheben." Doch Milias mochte weder den immer noch vor ihm Knienden aufheben, noch ihn zum Mann annehmen. Das hörten draussen vor der Halle die Riesen; Widolf ward zornig und wollte Milias erschlagen; mit Gewalt hielten ihn seine Brüder zurück; da stampfte er mit den Füssen bis an die Knöchel in die Erde und rief: "Herr, weshalb liegst du zu Füssen dem König Milias? Viel edler bist du als er; brechen wir seine Burg nieder, fahren wir mit Feuer und Schwert über sein Reich, nimm du seine Tochter und habe sie als Magd." Oserich merkte, dass Widolf in Zorn geriet und sandte einen Diener zu seinen Brüdern; sie sollten ihn mit Ketten an die Burgmauer binden. Und noch einmal umfasste er des Königs Knie und bat: "Gewähre Frieden mir und meinen Mannen hier im Land um deiner Ehre und Königswürde willen; heim kann ich nicht ziehen; denn Oserich bedroht mich mit dem Galgen."
"Steh’ auf, Mann! Geh’ hinweg und fahre friedlich aus meinem Reich. Diese Stadt ist voll von deinen Kriegern; ich will kein ausländisch Heer in meinem Land haben. Tust du aber das nicht, dann lass’ ich meine Hörner gellen; meine Helden werden sich wappnen und mit Gewalt treib’ ich euch aus der Burg."
Dies Wort hatte der Riese Aspilian vernommen; nun ward auch er zornig; er ging hinein in die Halle, hub die Faust und schlug König Milias wider das Haupt, ohnmächtig stürzte der nieder. Auf sprang da Oserich und schwang sein Schwert und mit ihm alle Wilkinen, die in der Halle waren. Die draussen standen, hörten den Waffenlärm und hieben sich zu ihnen hinein. Widolf aber brach alle Bande, die ihn gebunden hielten, ergriff seine Eisenstange und lief in der Burg umher und erschlug Männer, Frauen, Kinder, Vieh und alles, was ihm Lebendiges vorkam; laut rief er dazu: "Wo bist du, jung Hertnit? Sei heiter und fröhlich, ich komme und befreie dich." Jung Hertnit hörte auch bald im Kerker des Riesen Rufen; da wurden die Gefangenen frohgemut und fingen an, sich zu befreien. Dem Stärksten unter ihnen gelang es, das Gefängnis aufzubrechen; sie liefen heraus, dem Rufe Widolfs nach und kamen zu ihren Landsmännern. Die Wilkinen erschlugen oder überwältigten alle Burgmänner, König Milias rettete sich durch die Flucht. Oda ward ergriffen und vor König Oserich
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