Walhall. Germanische Goetter- und Heldensagen
der häufig auch sonst bei Schilderung der Riesen wiederkehrende Zug, dass der Wolf eine gewisse ungeschlachte Redlichkeit, freilich auch plumpe Selbstgefälligkeit und Ruhmgier zeigt, während die Götter ihn nicht mit ehrlichen Mitteln, sondern durch überlegene Arglist bezwingen; denn die Abrede ging auf ein leibliches Band, das Band "Gleipnir" aber ist durch zaubernde Zwerge unzerreissbar geschmiedet. Deshalb, weil die Götter – vor allem wohl Odin – selbst bei Überlistung des Wolfs und oft sonst noch das Recht gebrochen haben, deshalb reisst zuletzt die Kette des Rechts, welche allein sie vor der Vernichtung durch den Hauptrechtsbrecher geschützt hatte.
Vielleicht ist diese Deutung allzu künstlich. Wir würden sie gar nicht wagen, wenn nicht ein Umstand ganz unzweifelhaft darauf hinwiese, dass der Wolf der Vertreter des Rechtsbruches ist; – mag es mit dem Bande, das ihn bändigt, auch eine nicht ganz aufzuhellende Bewandtnis haben. Zwar darauf, dass die Schnüre, welche bei der Rechtsprechung das germanische Ting umhegten, oft in später Zeit Seidenschnüre waren, ist kein gross Gewicht zu legen. Aber es steht fest, dass das Abbild des Verbrechers, zumal des wegen ungehorsamen Ausbleibens vor Gericht friedlos gelegten Geächteten, ein Wolf war, dem die beiden Kiefer durch ein nacktes Schwert auseinander gesperrt sind; so stellen noch die (im vierzehnten oder fünfzehnten Jahrhundert hinzugefügten) Bilder zu dem (ca. 1230 entstandenen) deutschen Rechtsbuch, dem Sachsenspiegel, den gebannten, verfesteten, geächteten "Ächter" dar; ein Mann mit einem also gesperrten Wolfsrachen. Der Wolf, der friedlose Räuber, der überall erschlagen werden soll, wo er sich in den Siedelungen der Rechtsgenossen zeigt, ist auch nach der Sprache Zeugnis das uralte Wahrzeichen des friedlos gewordenen Verbrechers; "vargr", "vargs" heisst zugleich "Wolf" und "Räuber" und "vargr i veum" (Wolf im Heiligtum) heisst der Friedlose, weil er eben getötet werden darf wie der Wolf, der sich blicken lässt in dem vom Götter- und vom Rechtsfrieden geweihten Raum. Wir dürfen also wohl annehmen, dass der so gebändigte Fenriswolf nach seiner geistig-sittlichen Bedeutung den Rechtsbruch darstellte. Dass nur der Kriegsgott ihm zu nahen und ihm zuletzt die Hand in den Rachen zu legen wagt, erklärt sich schon aus dem tapferen Mut, der diesem Gott vor allen zukommen muss; vielleicht aber darf man auch daran denken, dass, abgesehen von dem idealen Bande des Rechts, nur die offene Waffengewalt, das Schwert, wie dem Kriegsfeind, so dem Räuber gegenüber erfolgreich auftreten kann und furchtlos nahen mag [Fußnote: Tyr sind geweiht und seinen Namen tragen; die Schwertrune T = Tyr Î, angelsächsisch mit zwei Haken mehr. Ear = Eru. – Von Pflanzen; das Märzveilchen, viola Martis, Tysfiola, der Seidelbast, Kellerhals, daphne mezereum, eine schöne Giftblume, "Ty-vidhr, Ty-ved, Tys-ved", dann der (ebenfalls giftige) kriegerisch gehelmte Eisenhut (Sturmhut), aconitum, Tyr-hialm, Tyrs-Helm, aber auch Thor-hialm; zahlreiche Berge und Burgen; Zies-, Tis-, Tys-berg; die mit "Sieg" zusammengesetzten mögen bald Woran, bald Ziu geweiht sein.] .
IV. Freyr-Frô.
Freyr-Frô ist ein Sonnengott und als solcher zugleich ein Gott der Fruchtbarkeit, des Gedeihens; zumal des Erntesegens, aber auch der Ehe und ihres Kindersegens. Er ist, wie seine schöne Schwester Freya, ursprünglich den Wanen angehörig und wird unter die Asen erst durch Vertrag aufgenommen; sein Vater ist der wanische Licht-Gott Njördr aus Noatun [Fußnote: Der "reiche Niördr" war von den Wanen den Asen als Geisel gegeben; ein Gott des fischreichen und durch Schiffahrt und Handel bereichernden Küstenmeeres; daher ist er so reich, dass er allen Reichtum spenden mag; unzählig sind seine Hallen und Heiligtümer (Buchten, Fjorde, Häfen?); über seine Heirat mit Skadi s. unten; er beherrscht Wind und Wasser, bei Seefahrt und Fischerei ruft man ihn an. Niördr war geweiht oder doch nach ihm benannt eine Wasserpflanze, spongia marina, unter dem Namen "Niördrs Handschuh" ("Niardhar vöttr"); vgl. Liebfrauenhand, Marienhand, Gotteshand, einige Orchideen, wegen ihrer handförmigen Wurzel (s. unter Freya).] , seine Mutter die ursprüngliche Erdmutter Nerthus, welche auch als Niördrs Schwester bezeichnet wird.
Ohne zureichenden Grund hat man aus dieser Verbindung gefolgert, die Wanen-verehrenden Völker der Germanen hätten länger als andre Germanen Geschwisterehe [Fußnote: S. unten;
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