Walhall. Germanische Goetter- und Heldensagen
und banden Loki damit über die Felsen; der eine Stein stand ihm unter den Schultern, der andre unter den Lenden, der dritte unter den Kniegelenken, die Bänder aber wurden zu Eisen. Da nahm Skadi, Niördrs Gemahlin, einen Giftwurm und befestigte ihm über Loki, damit das Gift aus dem Wurm ihm ins Antlitz träufelte. Aber Sigyn, sein treues Weib [Fußnote: S. die Dichtung Sigyn, Sämtl. poetische Werke. Zweite Serie Bd. VI. S. 551.] , steht neben ihm und hält ein Becken unter die Gifttropfen. Und wann die Schale voll ist, da geht sie und giesst das Gift aus; derweil aber träuft ihm das Gift ins Angesicht, wogegen er sich so heftig sträubt, dass die ganze Erde schüttert, und das ist’s, was man Erdbeben nennt. Dort liegt er in Banden bis zur Götterdämmerung.
Tiefsinnig ist diese Sage.
Er weiss, dass er die Rache der Götter herausgefordert hat; so schweift er unstät umher wie der Verbrecher; sein Haus auf dem Berge hat vier Türen oder Fenster, damit er die hereinbrechende Strafe erspähen, vielleicht ihr entfliehen könne. Er quält sich mit dem Gedanken, auf welche Art die Asen ihn wohl fangen möchten? Und er knüpft sich selber das Netz, das allein ihn fangen kann, wie die Bosheit sich selber Fallstricke legt und Gruben gräbt. So wie er durch seine eignen Fallstricke gefangen wird, so wird er auch durch seine eignen Bande gebunden, d. h. mit den Gedärmen seines Sohnes gefesselt, den Folgen seiner Tat; wie sich seine Söhne auch untereinander selbst zerfleischen. Das Böse wird in Fesseln geschlagen von den sittlichen Mächten, dem Göttern. Würde freilich einst die Herrschaft des Sittlichen und des Rechts völlig gebrochen, träte Verfinsterung dieser Begriffe bei den Göttern selbst ein, dann bräche das Böse sich los von seiner Kette, dann führe der Rachetag, Gerichtstag (stuatago) über die Völker. Schon jetzt rüttelt Loki oft an seinen Ketten und versucht, sie zu zerreissen; dann entsteht das Erdbeben; denn er erschüttert die Grundfesten der Welt und erschreckt die Götter, die selbst als seine Fesseln, die höpt und bönd (Haften und Bande), die Gewähr der sittlichen Weltordnung gedacht sind [Fußnote: Erdbeben werden auch bei andern Völkern von der Wut gefesselter Unholde und Riesen hergeleitet.] .
Warum töten die Götter weder den Fenriswolf noch Loki? Weil sie ihre heiligen Freistätten nicht verletzen dürfen, heisst es einmal. Das gilt aber nur etwa vom Wolfe, nicht von dem friedlos gefangenen Mörder. Der wahre Grund ist: weil der Untergang Odins und Heimdalls in dem letzten Kampfe durch beide Gegner feststand; also war die Götterdämmerung auch im einzelnen schon ausgebildet, als die Sagen von der Fesselung beider entstanden.
Wir sahen, ursprünglich bezog sich Baldurs Tod (wie Iduns Niedersinken vom Weltbaum) auf den jährlichen Wechsel der Jahreszeiten; später aber auf die Götterdämmerung. Nun bleibt Baldur in Hel bis zum Ende der Dinge. Nun bedeutet er auch nicht mehr bloss das Licht, sondern die Unschuld, die Reinheit; ist diese durch das furchtbare Verbrechen des Brudermordes, den germanischem Sippegefühl unerträglichsten Frevel vernichtet, durch Loki, der zerstörenden, neidvollen Selbstsucht Vertreter, so liegt darin, wie eine Hauptursache, so die Vorbedeutung, ja schon eine Vorstufe der Götterdämmerung, jenes Tages, da die verderblichen, von den Asen nur auf Zeit gefesselten Gewalten sich losreissen und alle Schuldiggewordenen sich im Kampfe furchtbarer Vergeltung gegenseitig strafen, d. h. vernichten werden.
"Stark bellt Garm vor Gnipa-hellir: – die
Fessel wird zerreissen, aber der Wolf rennen!
Viel weiss ich der Kunden; vorwärts sehe ich
weiter über der Götter Geschick, das Gewal
tige, der Siegmächtigen." –
Völuspá, Strophe 29,
(nach Müllenhoff, S. 81)
noch zweimal wiederholt, je bei einem
bedeutungsvollen Abschnitt.
II. Die Götterdämmerung.
Diese Götterdämmerung, – wann bricht sie herein?
Alsdann, nicht früher, aber dann auch unentrinnbar, wann die die Naturordnung und die sittliche Ordnung stützenden und schützenden Gewalten, wann die Götter selbst völlig morsch und faul geworden, wann die körperlichen und sittlichen Bande des Weltalls völlig aus den Fugen gelöst sind, wann das Chaos über Natur und Geist hereinbricht.
Diese Auffassung wird nicht etwa künstlich in die Edda hineingetragen; man muss in ihren eignen herrlichen Worten nachlesen, wie dem Hereinbrechen des letzten Kampfes zugleich die Zerrüttung der Natur, des
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