Walhall. Germanische Goetter- und Heldensagen
Kriegsfreude, abstreifen, aus welchen jene Verschuldung mit (dichterischer) Notwendigkeit hervorgewachsen war. Ein solcher Odin aber, ohne Kriegsbegeisterung, ohne überlegen planende List, ist eben gar nicht mehr das Vorbild, das wir als Odin, trotz seiner Fehler, lieben gelernt hatten. Es ist ein ziemlich farb- und inhaltloser "oberster, weiser, gerechter, starker Gott," ohne besondere Bezeichnung (abgesehen von diesen Eigenschaften), ohne weitere Ausmalung seiner Züge, und so ist es fast gleichgültig, ob man in demselben einen neuen, erst jetzt gewordenen Gott, oder einen erneuten Odin annimmt, der mit dem wirklichen so gut wie nichts mehr gemein hat. Aber immerhin wird man doch den erneuten Odin, nicht etwa Baldur, der schon vorher erledigt ist, in dem neuen Welt- und Himmelsherrscher erblicken müssen; die Sagenbildung über die neue Welt geschah doch in Anknüpfung an die alten Gestalten, und es widerstreitet dem Wesensgesetz ihres Schaffens, völlig abstrakt einen neuen Obergott "im allgemeinen" aufzustellen [Fußnote: Wenn eine Stelle der Edda von Thor sagt; "Einst kommt ein andrer, mächtiger als er; doch noch ihn zu nennen, wag’ ich nicht, wenige werden weiter blicken, als bis Odin den Wolf angreift," so weist der Vergleich mit Thor allerdings auf Odin, aber Odins Nennung, während "der andre" noch nicht genannt werden soll, lässt einen dritten als gemeint annehmen. Die Runen Odins, über welche geredet wird, sind seine Geheimnisse, d. h. selbstverständlich nur, soweit sie den andern Göttern bekannt geworden, auch eben durch die Götterdämmerung nun erst enträtselt wurden.] .
Eine Stelle der jüngeren Edda fasst den neuen Götterkönig unzweifelhaft als Odin, den sie "Allvater" nennt, aber zugleich mit feststehenden Beinamen Odins bezeichnet und schmückt. "Er lebt durch alle Zeiten, beherrscht sein ganzes Reich, und waltet aller Dinge, grosser und kleiner. Er schuf Himmel und Erde und die Luft und alles, was darinnen ist; und das ist das Wichtigste, dass er den Menschen schuf und ihm den Geist gab, der leben soll und nie vergehen, wenn auch der Leib in der Erde fault oder zu Asche verbrannt wird. Auch sollen alle Menschen, die gut geartet sind, leben und mit ihm sein an dem Ort, der Gimhle [Fußnote: "Einen Saal sieht sie strahlen, schöner als die Sonne, mit Golde gedeckt, auf Gimhle; da sollen treue Scharen hausen und in Ewigkeit Behagen finden." "Gim-hle" zusammengesetzt aus dem Fremdwort gemma, Edelstein, und hle, Dach (Müllenhoff).] heisst; aber böse Menschen fahren zu Hel und danach gen Niflhel; das ist unten in der neunten Welt."
In mancher dieser Wendungen der jüngeren Edda fühlt man sich stark versucht, christlichen Einfluss zu vermuten; so, wie es hier dargestellt wird, war Odin nicht "Schöpfer" (das war er gar nicht für die alte, und doch ist er es nur sehr uneigentlich für die neue Welt!) und "Alleinherrscher". Dazu kommen folgende doch sehr christlich gefärbte Züge; die besondere Hervorhebung der "Schöpfung des Menschen", die Verleihung des "unsterblichen Geistes", während "das Fleisch" verfault, der Himmel für die Guten, der Strafort (auch nachdem "Gimhle" entstand) für die Bösen; nach Hel fuhren den Heiden auch die Guten, die den Strohtod gestorben, und nach der Völuspá müsste man Hel und die Straforte samt den Bösen untergegangen ansehen, als "Gimhle" erstand.
Desto auffallender und geradezu widersprechend christlichen Anschauungen ist es nun aber, wenn dieser "Allvater" doch einerseits als Odin durch dessen zweifellose Beinamen bezeichnet wird und wenn er auch nach der jüngeren Edda eine Mehrzahl andrer – der alten – Götter [Fußnote: Sehr richtig Müllenhoff, S. 30; "Wenn diese Wiederkehr der Asen nicht heidnisch gedacht ist, so weiss ich nicht, was heidnisch heissen kann. Die Personen für einen neuen Götterstaat sind da, und ohne Zweifel sind sie bestimmt, einen solchen zu bilden."] neben sich hat, was mit christlicher Einzahl Gottes doch wahrlich ganz unvereinbar. Keinesfalls also ist dieser Allvater der Christengott, wenn auch sein Himmel und der Menschen Entstehung, Lohn und Strafe christlich gefärbt sein sollten.
Alles, was den Frieden der neuen Götter stören könnte, und zugleich die Erinnerung an den grauenhaften Vernichtungskampf, schaut die Seherin zusammengefasst in dem Drachen, Nidhöggr versinken.
Nachdem sie die neue Herrlichkeit in Gimhle geschildert, schliesst sie: "Es kommt der düstere Drache geflogen, die Natter von unten, von
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