Walkueren
Treppenabsatz. Ebba hegte keinen Zweifel daran, dass sie tot war, rief die 112 an und alarmierte Polizei und Krankenwagen.
Grétar war in einem Zustand, der es ihm unmöglich machte, sich daran zu erinnern, was am Vormittag geschehen war. Er wusste nur noch, dass er mit Þórunn ins Kaffi Skít gegangen war, als dieses am Morgen öffnete. Ebba hatte von anderen Gästen in der Bar erfahren, dass sich Þórunn bis ca. zwei Uhr dort aufgehalten habe, dann aber unglücklich gestürzt sei. Sie sei zum Singen auf einen Stuhl geklettert, da Pálmi Hafsteinsson, meist »der Dürre« oder »das Skelett« genannt, zu einem »Superstar-Wettbewerb« vor Ort aufgerufen und diesen durch die Herausnahme seines Gebisses und das Schneiden von Grimassen selbst eröffnet habe. Anwesende berichteten, die junge Frau sei mit dem Hinterkopf aufgeschlagen. Sie wog siebenundneunzig Kilo.
Þórunn sei nach dem Sturz schwindelig geworden, aber nachdem man ihr auf die Beine geholfen habe, schien sie sich verhältnismäßig schnell zu erholen. Sie habe jedoch über Kopfschmerzen geklagt, die sich auch nicht gebessert hätten, nachdem man ihr einige Schmerztabletten gegeben habe, welche sie mit Bier hinuntergespült hätte. Daher habe sie beschlossen, nach Hause zu gehen und sich einen Moment hinzulegen.
»Ich denke, es besteht kein Zweifel daran, dass dieser Schlag auf den Kopf, den sie sich zuzog, als sie rücklings vom Stuhl stürzte, die Todesursache ist«, sagte Þórhildur. »Sie hatte einen Schädelriss, der Hirnblutungen auslöste. Andere sichtbare Verletzungen hatte sie nicht, es war also ein Unfall oder ein natürlicher Tod, insofern man es als natürlich bezeichnen kann, wenn ein neunzehnjähriger Teenager aufgrund von Alkohol- und Medikamentenmissbrauch am helllichten Tag in der Reykjavíker Innenstadt kollabiert und anschließend stundenlang tot vor der eigenen Wohnungstür liegt.«
»So ein hübsches Mädchen«, bemerkte Víkingur.
»Spielt das irgendeine Rolle, ob sie hübsch war?«, fragte Þórhildur.
»Natürlich nicht«, sagte er. »Die Leute nutzen die Gaben der Natur eben auf unterschiedliche Weise.«
»Sie wog siebenundneunzig Kilo«, sagte Þórhildur, »und hatte trotzdem Mangelerscheinungen.«
Als Nächstes hatte die Obduktion einer Frau angestanden, die sich offenbar in ihrem Auto oben in Rauðhólar umgebracht hatte und am Morgen eingeliefert worden war. Þórhildur hatte Freyja Hilmarsdóttir nie getroffen, kannte sie aber aus den Medien.
»Die Todesursache ist ziemlich eindeutig«, erklärte Þórhildur, »vorbehaltlich der Ergebnisse der Untersuchungen des Bluts und des Mageninhalts: eine typische Gasvergiftung, Kohlendioxid, du weißt ja, wie sich das Gesicht dabei verfärbt, und dann diese Flecken um die Augen. Der Todeszeitpunkt liegt irgendwann zwischen zehn Uhr gestern Abend und vier Uhr nachts. Ich weiß nicht, wie warm es im Auto war und wie lange die Standheizung lief. Wenn ich schätzen müsste – was ich nicht tue –, würde ich sagen, kurz nach Mitternacht. Die Leiche hatte keine weiteren Verletzungen, bis auf ein paar schwache blaue Flecken am rechten Handgelenk und einen kleinen Kratzer unter dem rechten Auge, wie von einer Kralle, vielleicht von einer Katze, könnte aber auch von einem spitzen Gegenstand stammen, unmöglich zu sagen, nur ein winziger Kratzer, den man kaum als Verletzung bezeichnen kann. Vielleicht war es dieser Kratzer oder auch nur Zufall, aber ich habe mir ihre Augen etwas näher angeschaut. Zuerst dachte ich, sie trüge Kontaktlinsen – wie naiv man manchmal ist –, aber dann habe ich begriffen, dass sie eine Augenoperation hatte, und zwar kürzlich.«
»Was für eine Augenoperation?«, fragte Víkingur. »Und was hat ihr Sehvermögen mit der Sache zu tun?«
»Nicht so schnell«, bremste Þórhildur ihn. »Dazu komme ich gleich. Leute, die keine Brille oder Kontaktlinsen mehr tragen wollen, können sich einer simplen Augenoperation unterziehen, einer sogenannten Laserbehandlung. Dabei wird die Hornhaut so eingeschnitten, dass ein Hornhautläppchen hochgeklappt werden kann, während das Auge mit Laser behandelt und Gewebe entfernt wird. Dann wird das Hornhautläppchen wieder zurückgeklappt, und das Auge heilt in kurzer Zeit von alleine. Bei der näheren Untersuchung von Freyjas Augen habe ich festgestellt, dass sie vor kurzem eine solche Operation hat machen lassen. Und obwohl das eher in deinen als in meinen Arbeitsbereich fällt, wollte ich mir das bestätigen
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