Walkueren
versucht, sich zu bereichern, indem er behauptet, ein Manuskript zu besitzen, das nie geschrieben wurde? Und damit erpresst er Kjartan A. Hansen? Wer sollte denn auf so eine Idee kommen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Eysteinn. »Ich hab den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht. Aber zum Beispiel könnten irgendwelche fanatischen Feministinnen auf eine solche Idee kommen.«
Obwohl Elín kaum etwas mit einer fanatischen Feministin gemein hatte, fühlte sie sich angegriffen: »Glaubst du ernsthaft, Feministinnen sind scharf darauf, Leute zu erpressen?«
»Selbstverständlich nicht. Aber ich glaube, am Ende erliegen alle Ismen dieser Welt dem Geld. Wenn man so schlau ist, danach zu fragen, wer von etwas profitiert, dann wird vieles verständlich, was vorher kompliziert aussah.«
»Hm«, murmelte Elín und musterte ihn. »Danke, dass du deine allgemeinen Überlegungen zum Feminismus und zur Philosophie mit mir teilst. Wenn wir uns anschauen, wer in diesem Fall versucht, zu profitieren, dann ist es der Erpresser – einer oder mehrere. Aber das wussten wir schon vorher. Mir ist nicht klar, was diese Spekulationen für einen Sinn haben sollen.«
»Man profitiert nicht nur in Form von Geld«, erwiderte Eysteinn. »Ich will darauf hinaus, dass in allen möglichen Dingen Profit stecken kann. Manche denken nur ans Geld, andere wollen Anhänger für ihre Ideologien gewinnen, wieder andere wollen sich rächen, Aufmerksamkeit erregen oder Verwirrung stiften. Und dann gibt es vollkommen Verrückte, die unvorhersehbare Dinge tun.«
»Widersprichst du dir jetzt nicht selbst?«, fragte Elín. »Hast du nicht eben noch gesagt, dass sich letztendlich alles in der Welt ums Geld dreht?«
»Ja, ich denke halt laut und erwäge verschiedene Möglichkeiten«, antwortete Eysteinn und dachte bei sich: Was soll eigentlich diese Wortklauberei? Glaubt die Frau wirklich, dass sie intelligenter ist als ich, nur weil sie sich meine Vorgesetzte schimpft?
»Es ist ja nicht verkehrt, verschiedene Möglichkeiten zu erwägen, wie du es nennst«, sagte Elín. »Aber die Frage ist doch: Wer verschickt erpresserische E-Mails und unterschreibt sie mit Odin? Wenn wir Odin finden, kommen die anderen Antworten von selbst.«
»Sollen wir die Mail vielleicht so einem Profiler zeigen, damit er analysieren kann, wer der Absender ist?«, fragte Eysteinn mit ironischem Unterton in der Stimme. »Vielleicht deutet Odin ja darauf hin, dass es ein Einäugiger ist. Von denen wird es in Island wohl nicht so viele geben.«
Diesen Versuch, witzig zu sein, hätte sich Eysteinn besser gespart. Elín war nicht sonderlich amüsiert.
»Ich meine ja nur«, lenkte er ein. »Jedenfalls ist klar, dass hier was geschieht, das wir näher untersuchen müssen. Ich für meinen Teil bin davon überzeugt, dass kein Buch mit dem Titel ›Walküren‹ existiert, und wenn es doch existiert, dann hat Freyja es nicht geschrieben. Soll ich der Sache nachgehen?«
»Ja«, antwortete Elín. »Aber du solltest heute noch niemanden davon in Kenntnis setzen. Ich muss darüber nachdenken, wie wir am besten vorgehen.« Sie wusste, dass dieser Fall zu heftigem Kompetenzgerangel mit der Reykjavíker Polizeibehörde führen könnte. Zumindest war es schon mal von Vorteil, dass das Erpressungsopfer in Kanada wohnte. Ottawa fiel wohl kaum in den Zuständigkeitsbereich der Reykjavíker Polizei.
Sie fragt mich noch nicht mal, wo ich eigentlich mit den Recherchen anfangen will, dachte Eysteinn. Amateurin.
»Ich denke, du solltest Kontakt mit Botschafter Kjartan A. Hansen aufnehmen und ihm mitteilen, dass wir an dem Fall dran sind. Er soll auf die E-Mail antworten und weitere Beweise dafür verlangen, dass wirklich ein Buch oder Text existiert, der ihm Unannehmlichkeiten bereiten könnte. Wir müssen alles dransetzen, Zeit zu gewinnen. Wir haben natürlich keine Chance, eine einzige Mail zurückzuverfolgen.«
»Einverstanden«, sagte Eysteinn. Unnötig, sie gegen sich aufzubringen.
»Dann belassen wir es erst mal dabei«, sagte Elín, um das Gespräch zum Ende zu bringen. Eysteinn erhob sich.
»Möchtest du, dass ich ihn anrufe, oder soll ich ihm eine Mail schreiben?«
»Ruf ihn an. Ich schätze, er ist im Augenblick ein bisschen empfindlich, was E-Mails angeht. Außerdem ist es am besten, wenn so wenig Schriftverkehr wie möglich über den Fall existiert, zumindest in der Botschaft.«
»Ich rufe ihn an«, sagte Eysteinn.
Elín nickte zustimmend. Dann vertiefte sie sich in die Unterlagen
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