Walkueren
hätte kein Privatleben, weil alle ständig die Nase in die Angelegenheiten ihrer Nachbarn steckten. In einem Block lebt es sich oft viel unbeobachteter als in einem Einfamilienhaus.« Er konnte es kaum erwarten, diesen Vortrag am Abend zu Hause zu wiederholen, obwohl er wusste, dass Ástríður sich früher oder später durchsetzen würde.
In unterschiedlicher epischer Breite rekapitulierte man den Tag und verteilte grob die Aufgaben für den kommenden. Terje und Guðrún wurden beauftragt, mit den Frauen zu sprechen, von denen das angepriesene, aber unauffindbare Buch handeln sollte.
Kurz vor Ende des Meetings schaute Randver zu Guðrún und sagte: »Was diesen Überfall heute Morgen angeht, möchte ich noch einmal wiederholen, damit das auch allen klar ist: Wir arbeiten bei den Ermittlungen von Kapitalverbrechen alle zusammen. Es ist völlig unsinnig, dass jemand alleine und eigenmächtig irgendwelche Nachforschungen anstellt. So was gibt’s nur im Kino oder in Büchern und geht meistens schief. Ich finde es gut, wenn jemand die Initiative ergreift, aber über allem anderen steht nun mal unsere Teamarbeit.«
Guðrún errötete bei dieser Rüge. Sie wusste, dass sie gerechtfertigt war. Aber Randver war noch nicht fertig.
»Nichtsdestotrotz würde ich doch gern wissen, warum du unbedingt noch mal in die Wohnung wolltest«, sagte er.
»Ich hatte das Gefühl, gestern Morgen etwas übersehen zu haben, als ich mit Terje dort war. Ich wusste nicht, was, hatte nur diese Ahnung. Nur so ein Gefühl.«
»Und bist du jetzt weitergekommen?«
»Ich bin mir natürlich nicht hundertprozentig sicher«, antwortete sie. »Heute Morgen, als ich in die Wohnung kam, war es verschwunden – und es kann ja auch Einbildung gewesen sein, und ich hab es vielleicht gar nicht wirklich gesehen.«
»Was war es denn?«
»Ein Messer«, sagte Guðrún. »Auf der Kommode im Flur steht eine Schale mit Kleinkram. Gestern lag da ein Messer drin. Heute Morgen war es weg. Es war ein Taschenmesser, mit so einer Klinge, die hochschnellt, wenn man eine Feder auslöst, glaube ich. Ein Schnappmesser, heißt das nicht so? Flick Knife. Butterfly Knife oder so ähnlich?«
»Bist du dir sicher?«, fragte Randver.
»Nein«, antwortete Guðrún. »Natürlich bin ich mir nicht sicher. Und gleichzeitig ganz sicher. Warum sollte Freyja ein solches Messer besessen und in dieser Schale aufbewahrt haben? Warum sollte ich auf die Idee kommen, ein solches Messer gesehen zu haben, wenn es gar nicht da war?«
30
Mittel gegen Schlaflosigkeit
Þórhildur ging vor ihm ins Bett. Mit einem Buch, wie üblich. Víkingur schaute noch eine englische Polizeiserie im Fernsehen.
Die abwegigen Vorstellungen mancher Drehbuchautoren von der Polizeiarbeit versetzten ihn in Erstaunen. Warum konnte man den Polizeijob nicht genauso korrekt beschreiben wie andere Berufe? Was würden die Leute wohl sagen, wenn in einer Gärtnerserie behauptet würde, Kartoffeln wüchsen auf Bäumen? Oder wenn bei ›Emergency Room‹ die Ärzte einem Patienten mit der Zange den Blinddarm aus dem Kopf zögen?
Nun denn.
Als er sich neben Þórhildur legte, setzte sie ihre Lesebrille ab und schaute ihn an.
Er gab ihr einen Kuss, strich ihr übers Ohr, zupfte an ihrem Ohrläppchen und sagte dann: »Setz ruhig wieder die Brille auf. Ich bin müde und will schlafen.«
»Vergisst du da nicht was?«
»Kann schon sein«, antwortete er. »Aber wenn ich mich an das, was ich vergessen habe, erinnern würde, hätte ich es ja nicht vergessen.«
»Jeden Abend kommst du nach Hause und erzählst, du hättest einen miesen oder schweren Tag gehabt. Was war denn so mies?«
»Ich hab eine gute und eine schlechte Nachricht – und eine sehr schlechte.«
»Erst die gute Nachricht.«
»Ich bin die Verantwortung für die Gründung dieser neuen Sicherheitsabteilung los, die der Justizminister unbedingt aufbauen möchte. Es versteht ja sowieso niemand, am allerwenigsten ich, wozu die eigentlich dienen soll.«
»Das ist doch prima«, sagte Þórhildur. »Dann kann sich jemand anders mit diesem Unfug rumärgern.«
»Die schlechte Nachricht ist, dass beschlossen wurde, die Landespolizeibehörde mit der Gründung zu beauftragen. Wenn mich nicht alles täuscht, geht damit der Traum des Justizministers von einer isländischen Armee in Erfüllung. Schließlich haben wir schon sogenannte Friedenstruppen im Irak und in Afghanistan, was nur ein harmloseres Wort für bewaffnete Soldaten ist. Angeblich sind sie wegen ihrer
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